Interview Travel

Zu Besuch in … St James, London / Teil II

(Bild: Nick Harvey for Heart of London Business Alliance)

Fliegenfischen und ungewöhnliche Ritz-Geschichten – Kurz und knapp hatte man mir einen Namen genannt, genau genommen einen Straßennamen. Jermyn Street, unweit vom Picadilly Circus, inmitten von St James. So lautete das Codewort für einen London-Ausflug der etwas anderen Art. Ab in den Flieger und rein in die Metropole. Im ersten Teil der Reisereportage habe ich bei Foster & Son vorbeigeschaut und die unglaublich sympathische Schuhmacherin Emiko Matsuda zum Gespräch treffen dürfen (den Artikel gibt’s hier zum Nachlesen).
Paxton and Whitfield
Bild: Nick Harvey for Heart of London Business Alliance

Jetzt geht es weiter zum nächsten Stopp, einem urigen Käseladen auf der Jermyn Street – jedoch nicht irgendeinem Käseladen: Paxton & Whitfield gilt als der beste Läden seiner Art in London und ganz nebenbei ist er auch noch Hoflieferant vom Königshaus. „Die Royals verfolgen mich“, denke ich mir und teste einen Käse nach dem anderen. Gerade die Ziegenkäsevarianten haben mein kulinarisches Herz erobert. Ich versuche mit meinen Französischkenntnissen zu glänzen, pralle aber am charmanten Käse-Länder-Vergleich der fachkundigen Verkäuferin ab: „Im Vereinigten Königreich haben wir mittlerweile eine Auswahl von mehr als 700 verschiedenen Käsesorten, damit ist die Auswahl größer als bei unseren französischen Nachbarn“. Ich packe mein français wieder ein, bin etwas klein(er) mit Hut und stöbere durch die, zugegebenermaßen ziemlich breitgefächerte Auswahl des Lädchens. Bevor wir uns verabschieden und den Laden verlassen, kommt eine Kundin in den Laden. Sie bestellt Käse und ein, zwei Flaschen Wein für mehrere Hundert Euro. Niemand ist wirklich überrascht von der Order – das nenne ich mal classy.
Jason_Bowen (1)
Bild: Nick Harvey for Heart of London Business Alliance

Etwas irritiert vom hautnah miterlebten Wohlstandsgefälle, an den man sich definitiv gewöhnen muss, machen wir uns auf den Weg zum nächsten Halt unserer Tour: Farlows. Dass ich in einen solchen Laden auch nur jemals verkehren würde, hätte ich mir nie, wirklich nie vorstellen können. Genug „hätte, würde oder können“, ich befinde mich zwischen Angel und Kescher in Londons berühmtesten Fliegenfischerladen. Kein Scherz, gerade erläutert mir Jason Bowen, Retail Manager des stark frequentierten Ladens, mit welchem Köder sich Flusslachse am besten anlocken lassen – man lernt immer dazu. Ich bin entzückt, einmal Einblick in diese mir fremde Welt zu erhalten. Der sympathische Südafrikaner berichtet zudem von zahlreichen Angelexpeditionen und für einen kurzen Moment frage ich mich, ob es eigentlich Blogger/ Journalisten im Angelbereich gibt? Da gibt es tausende Dinge zu beachten und die Köderauswahl erinnert mich von den Auswahlmöglichkeiten an die Selbstbedienungstheke bei Haribo. Für alle, dessen Freunde, Bekannte oder Bekannte der Bekannten Interesse am Angelsport haben, schaut beim nächsten Londonbesuch unbedingt mal bei Farlows vorbei. Hier findet man garantiert tolle Geschenke und ansonsten taucht man als Außenstehender für einen kurzen Moment in eine völlig fremde Welt ein – die Fliegenfischerwelt.

Ich für meinen Teil tauche erst wieder auf, als wir zum nächsten Treffen laufen: Ein Termin im sagenumwobenen The Ritz London. Nur ein paar Minuten Fußweg entfernt, ziemlich in der Nähe der Jermyn Street, thront die Luxusresidenz und wartet auf meinen Besuch. So bilde ich mir das zumindest ein und zum wiederholten Male fühle ich mich an diesem Tag bei der Auswahl meiner Garderobe ertappt: Schlabberpulli, Chinos und abgetretene Stan Smith. Dazu die obligatorische Kamera samt riesigen Objektivs und mein persönlicher „Supreme“-Cap-Slogan als Ablenkung vom Glatzendasein. Ich werde beäugt, wenn auch nett beäugt, als ich eine Tour durch die Hotelikone mache. Hier kann man ganz vorzüglich Tee trinken, wenn man denn einen Platz bekommt. Kontakte knüpfen ist angesagt und so freue ich mich riesig, dass ich Michael de Cozar, Head Hall Porter (ich muss es einfach auf Englisch schreiben, weil es sich so wunderbar anhört) zum kurzen Gespräch treffen darf.
Michael de Cozar 2
Bild: Nick Harvey for Heart of London Business Alliance

Vor beinahe 43 Jahren fing er als Page im Ritz an, heute wird er von Gästen und dem eigenen Team liebevoll „Mr. Ritz“ genannt. Das muss schon was heißen und so versuche ich bei ihm etwas mehr über seinen Job und sein Umfeld herauszufinden…

Ich habe gehört, dass Sie schon seit vielen Jahren im Ritz arbeiten: Wann haben Sie hier angefangen?
Das weiß ich noch ganz genau, 1973 war das. Am 30. Juli um es genau zu sagen. Ich habe ungefähr drei Jahre als Page im Ritz gearbeitet, dann wurde ich Junior Concierge und durfte in einem etwas älteres Team assistieren. Mein Vorgesetzter hatte damals über 50 Jahre, sein Kollege „nur“ 43 Jahre Berufserfahrung – dementsprechend konnte ich als Jungspund eine Menge von ihnen lernen. Das erste und wichtigste, was ich mir gemerkt habe? Vergesse niemals etwas, vor allem nicht im Umgang mit Gästen! Das sage ich noch heute neuen Kollegen, denn auch wenn es heutzutage für alles elektronische Hilfsmittel gibt, sollte man die wichtigen Dinge lieber im Kopf behalten. im Kopf behalten, das hält mich jung.

Sie wirken ansteckend enthusiastisch: Was ist das Beste an Ihrem Job?
Eigentlich alles! Ich liebe meinen Job und freue mich jedes Mal aufs Neue unseren Gästen weiterhelfen zu können. Ich liebe die Herausforderung, bei uns sagt man: „The harder the better“! Ich versuche für unsere Gäste alles möglich zu machen, wenn du magst erzähle ich ein wenig…

Nur zu, nur zu!
Die Premiere von „Das Phantom der Oper“. Prinz Charles war anwesend und der Direktor des Stücks, Harold Prince, steigt immer bei uns im Ritz ab. Für mich wäre es eine leichte Aufgabe ihn als Direktor zu fragen, ob ich zwei Tickets bekommen könnte. Dass ist jedoch kein Weg den wir als Team vom Ritz wählen: Wir sind diskret und egal was der jeweilige Gast, in dem Fall Harold Prince, hier in London treibt, es ist und bleibt Privatsphäre. Gäbe es also eine Situation, und die gab es in der Vergangenheit genau so, in der ich zwei Tickets für genau diesen Eröffnungsabend besorgen müsste, ich würde alles tun, nur nicht direkt anfragen.
Es ging also genau so los: Ein Gast aus Dallas mitsamt Cowbow-Boots und starkem Akzent kam zu mir an den Tresen und fordert zwei Tickets für „Das Phantom der Oper“. Am besten sofort und nur für den bevorstehenden Abend. Es war Premierentag und ich stand damals vor einer echten Herausforderung.

Was haben Sie gemacht?
Ich habe zuerst die Abendkasse angerufen, den Verantwortlichen kenne ich seit Jahren persönlich. Ich fragte am Telefon also nach Karten, vergeblich: „Das Königshaus wird anwesend sein, es gibt einen roten Teppich und wir sind schon lange ausverkauft!“ Mein Freund von der Abendkasse ist ein echter Gentleman und ich wusste, dass er mir dennoch eine Chance geben wird. „Vielleicht hast du Glück und irgendjemand gibt seine Tickets ab“, sagte er und schenkte mir Mut. Ich schickte also einen unserer Pagen los, der sich in der Warteschlange einreihte. Nur für den Fall, falls irgendein Ticket für den Abend zurückgegeben werden sollte. Der junge Page wartete und wartete in der Menschenmenge und keiner von uns hatte mehr damit gerechnet, dass wir doch noch Ticket bekommen würden. Die Leute strömten an ihm vorbei und mit jedem vorbeischreitendem Premierengast schwand die Wahrscheinlichkeit, Tickets zu bekommen.
Plötzlich stand Harold Prince vor dem Jungen, unser Page war natürlich in seiner Uniform gekommen. Der Direktor des Stücks hatte ihn erkannt und sprach ihn an: „Sie sind doch vom Ritz, haben Sie etwa Nachrichten für mich? Ist alles in Ordnung bei Ihnen?“ Unser Page wollte erst nicht mit der Sprache rausrücken – wie gesagt, wir arbeiten sehr diskret – dann erklärte er ihm doch die missliche Lage, in der ich mich als Head Hall Porter befand.

Fotos:

Wie hat er daraufhin reagiert?
Er war völlig verdutzt und fragte nur: „Warum hat sich Michael mit seinem Anliegen nicht an mich persönlich gewendet?“ Der junge Page erklärte, dass wir das im Ritz niemals tun würden. Harold Prince schüttelte wohl nur den Kopf und gab dem Jungen zwei Tickets. Da hatten wir sie also doch noch bekommen und es waren mit Abstand die besten Plätze neben dem Direktor und dem Königshaus. Ich rief den Gast in seiner Suite an und berichtete, dass wir seine gewünschten Tickets vor Ort bekommen hätten. Zudem orderte ich ihm auf Kosten des Hauses einen Fahrer. Er freute sich und fragte sogleich nach dem Preis für die Premierentickets: „Das wird doch teuer als diese Suite sein, nicht?“. Ich erklärte ihm, dass es ein Geschenk des Direktors sei und wir ihm somit keinerlei Kosten in Rechnung stellen würden. Einzig bei meinem jungen Kollegen, der so lange vor dem Theater gewartet hatte, könnte er sich erkenntlich zeigen.

Wieviel hat er ihm gegeben?
Was denkst du? Stell dir vor, dass wir vor einer echten Herausforderung standen und der Page stundenlang vor dem Theater warten musste! Er gab ihm zwei Pounds, keinen Cent mehr…

Oh je, was für ein Benehmen! Können Sie sich noch an die ungewöhnlichste Anfrage erinnern?
Sicher doch. Früher war unser Klientel noch wesentlich exzentrischer und die Wünsche der Hotelgäste waren mitunter schwierig zu beschaffen. Die verrückteste Geschichte ereignete sich an meinem ersten Weihnachtsdienst im Ritz: Ich hatte eine „Nine to Nine“-Schicht und war ziemlich nervös, schließlich hatte ich zuvor noch nicht an den Weihnachtstagen im Ritz gearbeitet. Es war verdächtig ruhig und ich saß für beinahe zwei Stunden auf meinem Posten, ohne irgendeine Anfrage. Ich hatte also genügend Zeit meiner Familie Weihnachtswünsche zu übermitteln und telefonierte mit meiner Ehefrau, Eltern und der restlichen Familie. Irgendwann kam dann doch ein Anruf, eine Stimme mit amerikanischen Akzent: „Wer ist da am Telefon?“ Ich stellte mich vor und erkundigte mich nach seinem Anliegen. Er ließ mich nicht wirklich zu Wort kommen und fragte sofort nach meinen Kollegen: „Wo sind Victor und Staples?“ Ich erklärte, dass ich und nicht sie die heutige Schicht übernehmen würde. Nach ein paar weiteren Fragen seinerseits, erfuhr ich schließlich auch den Hintergrund seines Anrufs. Eine Anfrage der besonderen Art…

Was hatte der Hotelgast vor?
Er forderte ein Bad mit Meerwasser, Kanister hatte er in seiner Ritz-Suite. Ich stand vor einer echten Herausforderung und überlegte, wie ich dem Herrn an Weihnachten eine Badewanne voller Meerwasser ermöglichen könnte. Ich hatte natürlich die ganze Zeit im Kopf, dass ich den Gast zufrieden stellen möchte. So habe ich nicht lange gezögert und einen Kollegen mit seinem Auto Richtung Brighton geschickt. Er fuhr mit den Kanistern zur Küste und kam mit dem gewünschten Meerwasser zurück nach London. Wir bekamen jeweils 100 Pound Trinkgeld und der Gast war mehr als zufrieden – wir ebenfalls, wenn man bedenkt, dass ich zu der Zeit gerade einmal fünf Pound pro Woche verdient habe. Das war natürlich ein ganz besonderes Weihnachtsgeschenk für uns.

Was für eine Geschichte!
Der Gast mit dem amerikanischen Akzent und der Vorliebe für Seewasser hat fortan nur noch mit mir zusammengearbeitet. Bei der Arbeit in einem guten Hotel ist es immens wichtig, dass die Gäste einen persönlichen Draht zu den Mitarbeitern aufbauen. In unserem Team hat jeder seine eigenen Stammgäste.

Fotos:

Ich bin ganz fasziniert von den Anekdoten des Head Hall Porter (ihr merkt schon, die Jobbeschreibung hat es mir angetan) und kann mich nur schwer aus dem Gespräch lösen. Die Uhr tickt jedoch und bevor es wieder Richtung Hamburg geht, wollen wir noch kurz bei Arc’teryx vorbeischauen. Hinter dem Namen des Labels verbirgt sich ein Outdoor-Spezialist mit höchstem Anspruch. Anders als beim Tatzen-Horror auf dem heimischen Festland, wirken die einzelnen Entwürfe hier wunderbar schlicht. Kaum im Laden angekommen, steuere ich auch schon auf die „Veilance“-Kollektion zu: Eine Premium-Linie ohne jegliche Spur von Branding und anmutend wie aus einem Science-Fiction-Film. Ich schlüpfe in einen der leichten, eher ultraleichten Parkas, und möchte ihn in Anbetracht des ständig wechselnden Wetters nur ungern wieder ausziehen. Vielleicht schaffe ich es ja in den nächsten Wochen etwas mehr über die Kollektion herauszufinden, ich bleibe auf jeden Fall an dem Thema dran. Zu guter Letzt erhalte ich eine ganz besondere Sneak-Preview, eigentlich nur für Stadtplaner vorgesehen. Wer hätte gedacht, dass ich auf bei einem Pressetermin auf Themen aus meinem Studiengang „Kultur der Metropole“ stoße?

Rund um den zukünftig geöffneten St James Market, entstehen jede Menge Restaurants, Büroräumlichkeiten und Läden mitsamt Fußgängerzone – architektonisch eine kleine Oase. Kaum drei Gehminuten vom lärmenden Picadilly Circus entfernt, wird hier eifrig an einem neuen Kapitel des Stadtviertel St James gefeilt. Die moderne Fassadenabwicklung der einzelnen Gebäude wirkt als klarer Kontrast zu der nahegelegenen Jermyn Street. Während auf der Luxusmeile das klassische Handwerk und jede Menge geschichtsträchtige Momente zuhause sind, der berühmteste Bewohner der Straße war wohl einst Isaac Newton, wird hier im modernen Bereich die Geschichte weitergeschrieben. Als Naseweiß-Reporter und Vorzeigestudent kann ich mir ein abschließendes Zitat des Stadtsoziologen Walter Siebel nicht verkneifen: „Urbanität ist Präsenz von Geschichte im Alltag des Städters“. Recht hat der Herr Siebel. Gut, dass ich in der Uni mal aufgepasst habe. Ich bedanke mich für eine spannende Führung und kann einen Besuch in der Gegend wärmstens empfehlen. Auf, auf: Wer das echte London entdecken will, muss hier gewesen sein!

Ich hoffe der Einblick in das Stadtviertel und seine „Tastemaker“ hat euch gefallen? Wie immer freue ich mich über euer Feedback! Anbei auch nochmal die einzelnen Adressen der angesprochenen Stores und Plätze…

Paxton & Whitfield
93 Jermyn Street
London SW1Y 6JE
0044 (0)20 7930 0259

Farlows
9 Pall Mall
London SW1Y 5NP
0044 (0)20 7484 1000

The Ritz London
150 Piccadilly
London W1J 9BR
0044 (0)20 7493 8181

Arc’teryx London
212 Piccadilly
London W1J 9HL
0044 (0)20 7287 7429

  • thomash
    26. Mai 2016 at 13:20

    danke für den super st. james einblick und die tips. natürlich gibt’s keinen london besuch ohne abstecher in die jermyn street. aber ins ritz werd ich jetzt auch mal reinschnuppern : )

  • Stephanberlin
    27. Mai 2016 at 11:13

    Wunderbarer Artikel! Ich kenne die Gegend wie meine Westentasche: sogar sonntags duftet es drausen VOR Paxton&Whitfield nach Käse!!!
    Ein englischer Käse eignet sich auch immer gut als Mitbringsel – das bringt sonst keiner mit!!!

  • PeterKempe
    27. Mai 2016 at 13:22

    Julian ,an bekommt durch die beiden Berichte wieder so Lust auf London ! Danke für die tollen Erlebnisse auf die du uns immer mit nimmst ! Wunderbar geschrieben !

  • René
    27. Mai 2016 at 13:45

    Beeindruckender Bericht bzw. Interview!

  • Die Woche auf Horstson – KW 21/2016 | Horstson
    29. Mai 2016 at 12:29

    […] Interviews: Julian besuchte für uns das Londoner Stadtviertel St James und traf sich mit Michael de Cozar, Head Hall Porter im Ritz und mit Emiko Matsuda, Schuhmacherin im Hause Foster & Son. 2) […]