(Bild: G. Maillot © Point-of-views.ch; Courtesy of SIHH 2017)
„Die Zeit vergeht nicht schneller als früher, aber wir laufen eiliger an ihr vorbei.“ (George Orwell) – Selten habe ich mich so erschöpft, rastlos und unter Strom gesetzt gefühlt. Die letzten Wochen und Monate waren nervenaufreibend, um ehrlich zu sein: katastrophal. Ein Todesfall in der engsten Familie war schuld, hatte mich bei voller Fahrt aus der Bahn geworfen. Hatte kurz vor Weihnachten alles ins Wanken gebracht, alte Wunden aufgerissen und eine unbeschreibliche Leere hinterlassen. Hatte mir die ein oder andere Ohrfeige verpasst und dabei unaufhörlich „jetzt wirst du mal erwachsen“ gerufen. Trotz Feiertage und Jahreswechsel auf den Lofoten (Elchen und Nordlichtern wurde erfolgreich hinterhergejagt), drehte sich das Emotionswirrwarr weiter und nahm an Tempo nicht ab. Immer wieder ertappte ich mich dabei, dass ich flennend in der U-Bahn saß. Dass ich, trotz rosa Optimismus-Lächeln-Weiter-Geht’s-Brille, nicht wirklich im Alltag ankommen konnte und wollte.
Kaum war ich morgens raus aus der Tür, wollte ich schon wieder kehrt machen. Wollte am liebsten den ganzen Tag im Bett liegen bleiben. Einfach nur schlafen, nicht nachdenken. Zwischendurch hielt ich mich krampfhaft an Erinnerungen fest oder mühte mir ein Lächeln für Instagram und Facebook ab, #pictureperfect klingt beinahe ironisch. So hätte es immer weitergehen können, aus einem Tief muss man sich schließlich selbst herausgraben. Tiefkühlpizza, Jogger und ein allmorgendliches Aufstehprozedere erwiesen sich als kontraproduktiv. In der Uni alles überspielen? Ebenso! Glücklicherweise kam mir vor ein paar Tagen das Schicksal dazwischen: Tadaaa, ein Job in Genf. Nicht irgendeiner, sondern ein ganz besonderer – eine Herzensangelegenheit. Der Besuch auf dem sagenumwobenen Salon International de la Haute Horlogerie (SIHH), der Luxusuhrenmesse schlechthin.
Bild: © SIHH 2017
Auf dem Hinflug war ich noch unentschlossen, ob ein Besuch samt Pressetamtam wirklich die richtige Medizin gegen Traurigkeit sein könnte. Statt Abwägen und Beziehen von Pro-Kontra-Stellungen im Hinterkopf, blätterte ich nun aber frohen Mutes im Uhrenspezial der deutschen GQ. Ich frischte meine Kenntnisse auf und las über die Hohe Uhrmacherkunst.
Jetzt aber zu den wichtigsten Informationen: Der Richemont-Konzern veranstaltet seit 1991 den Salon International de la Haute Horlogerie in Genf, neben der Baselworld bildet er die weltweit wichtigste Uhrenmesse. Dieses Jahr sollten – so wurde vorab branchenintern gemunkelt – besonders viele Neuankündigungen und Weltpremieren der krisenbesetzten Branche den nötigen Aufschwung bereiten. „Die Uhrmacher von X, Y und Z haben im letzten Quartal alles gegeben, da wird in den nächsten Tagen Einiges auf uns zukommen“, prophezeite ein versiert wirkender Anzugträger in der Sitzreihe vor mir.
Bild: © SIHH 2017
Es bot sich mir eine Zusammenfassung für Krisengründe der Uhrenbranche: Zuallererst wäre da der starke Franken, das verlangsamte Wachstum in China und weltweite Unruhen/ Kriege. Der mittlere Osten schwächelt als Abnehmer von Luxusartikeln und politische Ankerpfeiler unserer Geschichte, Brexit oder die Ernennung von Donald Trump als Präsidenten der Vereinigten Staaten, sorgen für Ungewissheit. Resultat? Stagnierende Nachfrage, Zurückhaltung bei Händlern und Käuferschaft!
Dann wäre die Angst vor dem Terror zu erwähnen, Touristen bleiben den großen Metropolen fern. Nicht nur in Paris sind seit den Anschlägen vom 13. November 2015 die Hotelbetten leer(er), auch andere Städte haben Schwierigkeiten in Sachen Besucherzahlen und Kaufkraft. Beispielsweise in Luzern, wo das Fehlen der asiatischen Touristengruppen jedoch weniger der Terrorfurcht, als dem starken Franken und dem Antikorruptionsgesetz in China geschuldet ist.
Laut versiert wirkendem Anzugträger aus der Reihe vor mir, seien das nur teils Gründe für die seit nunmehr zwei Jahren anhaltende Krise. Mindestens genauso entscheidend zeichneten sich interne Fehlkalkulationen der jeweiligen Traditionshäuser/ Unternehmen ab: Ruhmreiche Jahre der Gewinne und steigenden Absätze liegen hinter den verantwortlichen Häusern. Riesige Marketingbudgets oder fulminant ausgestattete Manufakturen als Vorzeige-Storytelling leerten jedoch peu à peu die Kassen – wer denkt in satten Zeiten schon gerne an magere Jahre? Daraus resultierend wurden bei dem ein oder anderen Unternehmen Investitionen an anderer Stelle vernachlässigt. Ausbau von Forschung, Entwicklung und Nachwuchsförderung standen bei dem ein Traditionshaus hinten an. Das klingt nicht besonders rosig. Beim Landeanflug freue ich mich über sauteures 3G-Netz made in Switzerland, schmeiße Google an und recherchiere etwas weiter.
Bild: © SIHH 2017
In einem sehr empfehlenswerten Artikel des Journalisten Samuel Jaberg auf swissinfo.ch werden sehr ähnliche Aussagen beschrieben. Jaberg nutzt seinen Beitrag für ein Interview mit dem Branchenkenner und Journalisten Grégory Pons, welcher wiederum als Redaktionsleiter der Online-Zeitschrift „Business Montres & Joaillerie“ tätig ist – eine Plattform, die sich ihre Unabhängigkeit von den Werbebudgets der Uhrenindustrie bewahrt. Hatte sich der Herr aus der Reihe vor mir vielleicht mit genau diesem Artikel aufgeschlaut? Schließlich reichen auf Google die Stichworte „Uhrenbranche“ plus „Krise“, um eben dieses Interview angezeigt zu bekommen! So berichtet Redaktionsleiter Pons, neben den oben bereits angesprochenen Erklärungsansätzen, von einer tiefgehenden gesellschaftlichen Veränderung. Diese würde sich nachhaltig auf die Uhrenbranche auswirken bzw. sei bereits in vollem Gange: Junge Konsumenten, die heranwachsende Zunft und Zukunft der Luxussparte Handschmeichler, seien nicht zwingend auf zur Schau gestellten Reichtum fixiert (welcher ihren Eltern hingegen noch Stand und Ehre bereitete).
Statt Rolex am Arm, würde in weniger materielle Dinge wie Fernreisen investiert. Understatement also, okay. Pons gibt sich jedoch nicht allzu pessimistisch, sondern appelliert an Innovationen und leichter zugängliche Produkte der traditionsreichen Unternehmen. Ich atme auf, mal sehen ob die Stimmung vor Ort betrübt sein wird. Kaum angekommen am Messeeingang, erschlägt mich die Eleganz der Anwesenden. Während ich mir vor dem heimischen Spiegel noch ausgemalt hatte, dass ich à la Pitti Uomo Florenz in auffälligem Hemdchen und Krempelhose aufschlagen könnte, wurde mir vor Ort der Gar aus gemacht.
Nix da, hier wird brav Anzug mit weißem oder hellblauem Hemd getragen. Dazu ein Paar Slipper von Tod`s oder Navyboot Monkstraps, schließlich sind wir nicht irgendwo, sondern in der Schweiz zugegen. Die Ausstellungsräume, großzügig geschnittene Säle, sind aufwändig gestaltet und laden zum Flanieren und Staunen ein. Rekordverdächtige 30 Aussteller sind dieses Jahr vertreten und bespielen die 45.000 Quadratmeter großen Hallen. Krise? Auf den ersten Blick keine Spur!
Bild: © SIHH 2017
Seit dem Launch des Salons in 1991 sind noch nie so viele Aussteller wie dieses Jahr zusammengekommen (2016 waren es wohl noch 24 statt 30). Folgende Namen sind vor Ort vertreten und werden in den nächsten Tagen teilweise von mir unter die Lupe genommen: A. Lange & Söhne, Audemars Piguet, Baume & Mercier, Cartier, Girard-Perregaux, Greubel Forsey, IWC, Jaeger-LeCoultre, Montblanc, Panerai, Parmigiani, Piaget, Richard Mille, Roger Dubuis, Ulysse Nardin, Van Cleef & Arpels und Vacheron Constantin. Girard-Perregaux, eine der ältesten Schweizer Uhrenmanufakturen mit Sitz im Kanton Neuenburg, hat nach ein paar Jahren auf der Baselworld, nun zurück zur traditionsreichen SIHH gefunden. Ulysse Nardin feiert dieses Jahr Premiere auf der Messe von Richemont.
Uhrenkenner werden bei dem ein oder anderen Namen aufhorchen, schließlich waren es schon Eltern und Großeltern, die oben aufgezählte Traditionsmarken am Handgelenk spazieren führten. Das stetig wachsende Markenportfolio des Richemont-Konzerns hat den Salon seit 1991 zu seiner weltweit hohen Relevanz verholfen – die Uhrenmacher stellen hier jährlich ihre Innovationen der Presse, Händlern, Sammlern und VIP-Kunden vor. Notiz an mich und weniger versierte Interessenten: Auf der Messe versammeln sich nicht nur die Big Player der Branche.
Nachdem 2016 erstmals mehrere unabhängige Manufakturen beim SIHH teilnehmen durften, wird die eigens hierfür eingerichtete Plattform „Carré des Horlogers“ nun sogar erweitert. Circa ein Dutzend aufstrebende und handwerksstarke Unternehmen präsentieren hier ihre Ideen für die kommende Saison. Anbei die Namen: Christophe Claret, Grönefeld, H. Moser & Cie, Hautlence, HYT, Kari Voutilainen, Laurent Ferrier, MB&F, MCT-Manufacture Contemporaine du Temps, Ressence, RJ-Romain Jerome, Speake Marin, Urwerk.
Bild: © SIHH 2017
Habe ich etwas vergessen? Mais oui, Stichwort „geschlossene Gesellschaft“! Bislang feierte die Branche stets unter sich, einzig Journalistenbeiträge und Pressemitteilungen verrieten über die Neuvorstellungen in Genf. Dieses Jahr markiert eine wichtige Wendung, vielmehr Neuausrichtung den Weg der SIHH: Erstmals gibt es einen „open day“, einen Einblick für die interessierte Öffentlichkeit. Am letzten Tag der Messe kann man für den Ticketpreis von 70 CHF in die Welt der Uhrmacher eintauchen. Der ein oder andere Kritiker sieht damit die Exklusivität des Events infrage gestellt. Viele Branchenkenner sprechen jedoch vom passenden Zeitpunkt für eine Anpassung der Zugänglichkeit. Schließlich muss die krisengeschüttelte Uhrenbranche neue Formen und Wege finden, um ihr potentielles Zielpublikum zu erreichen. Meiner Meinung nach eine clever durchdachte Businessbelebung!
Fabienne Lupo; Bild: G. Maillot © Point-of-views.ch; Courtesy of SIHH 2017
Fabienne Lupo, Präsidentin der Fondation de la Haute Horlogerie (FHH), erklärte hierzu gegenüber der Nachrichtenagentur sda: “By opening the last day of the Salon to the public, we are enabling existing and future clients to get to know the craft, and to explore not only the products but also the history, know-how and skills of the industry. (…) This is a natural development in the course of events and acknowledges the degree of transparency demanded by today’s clientèle.” Natürlich freuen sich die Verantwortlichen bei Abschluss der SIHH dementsprechend über höhere Besucherzahlen: Rekordverdächtige 16.000 Besucher über die gesamte Woche verteilt. Sage und schreibe 1.200 Journalisten und 2.500 Ticketkäufer beim „open day“ am Freitag.
Ich bin einer der Besucher und stürze mich ins Getümmel. In den nächsten Tagen werde ich ausführlich über Tourbillons, Komplikationen und die schönsten Modelle berichten. Um an der richtigen Stelle abzuschließen: Ich habe neuen Elan und Optimismus getankt. Für die Zukunft versuche ich etwas weniger schnell an der Zeit vorbeizulaufen, das einleitende Zitat des Schriftstellers George Orwell erschien mir zur Beschreibung meiner Gefühlslage mehr als passend. Auf, auf dafür… Vorfreude hoch zehn!
In den nächsten Tagen geht es hier mit den Neuvorstellungen der SIHH weiter, ich freue mich über Euer Feedback!
Siegmar
25. Januar 2017 at 10:57sehr toller Artikel, lieber Julian! Den wenigsten ist es vergönnt einmal die Großartigkeit aber auch Überheblichkeit dieser Uhren-Messe, ebenso in Basel, zu erleben. Ich war mehrmals dabei und immer wieder sehr beeindruckt. Besonders bei der Marke aller Marken “ patek philippe “ !
SIHH ... Die Neuvorstellungen und Premieren | Horstson
1. Februar 2017 at 17:46[…] jetzt aber: Nachdem ich in den letzten Tagen bereits ausschnitthaft über die SIHH in Genf berichtet hatte, werfe ich nun einen Blick auf die […]
SIHH … Die Neuvorstellungen und Premieren / Teil 2 | Horstson
6. Februar 2017 at 10:25[…] die Zweite: Nachdem ich in den letzten Tagen bereits ausschnitthaft über die SIHH in Genf berichtet hatte, werfe ich nun einen Blick auf die […]
Neuvorstellungen von Parmigiani Fleurier, Piaget und Girard-Perregaux | Horstson
20. März 2017 at 10:19[…] Händlern eintrudeln. Nichtsdestotrotz, hier geht es weiter mit meinen Eindrücken. Wie in Teil I und Teil II bereits angemerkt, geht es um jede Menge Innovationen, fesselndes storytelling und […]