(Zeichnung: Patrick Vollrath)
Was bisher geschah: Ich war ein junger Designer mit eigenem Büro und ohne Geld in Paris, der sich bei Margiela in einen Mantel verliebte, der aber Michael Stipe gehörte und den ich mir, selbst, wenn er nicht Michael Stipe gehört hätte, nie hätte leisten können. Und nebenbei wäre fast noch ein Verkäufer gestorben.
Nach dieser für mich eindrucksvollen Episode bei Margiela ging mein aufregendes Paris-Leben natürlich noch weiter und ich genoss es in vollen Zügen. Und weil sich die Leute in der alten Heimat gerne an einen erinnern, wenn die neue Heimat Paris ist, hatten wir immer viel Besuch in unserem 38qm-Wohnbüro (in dem wir auch heute noch ansässig sind).
Eines Tages kam uns ein, damals schon recht erfolgreicher, Berliner Designer und Freund (oder Freund und Designer) besuchen. Da er Paris nicht so gut kannte, machte ich mit ihm meine übliche Tour, die immer in Saint-Germain-des-Prés im Bon Marché endet, bevor ich von dort aus den 39er-Bus nehme, der mich direkt vor meine Haustür fährt. In Paris nennen wir es immer, zurück in unsere „Banlieue“.
Das Bon Marché ist ein ausgezeichneter Ort zum Träumen und, wenn man das französische Wort für „Probe“ kennt und sich nicht ganz dumm anstellt, bekommt man am Stand von La Prairie auch meist eine kleine Gratiscreme und ein Augenzwinkern. Das eine stärkt die Spannkraft der Haut, das andere hebt das Selbstbewusstsein.
Wir beide also, mit der kleinen Creme in der Hand gehen in Richtung des „Trente-Neuf“, wie wir den Bus nennen, und wollen nach Hause fahren. Ich genieße die Busfahrt durch die ganze Stadt immer sehr, denn je näher ich zurück zu meiner Straße komme, desto mehr fühlt sich mein Leben an wie ein Almodovar-Film. Ich nenne es das „Volver-Syndrom“. Ich wollte meinen Freund an diesem Gefühl teilhaben lassen, da ich dachte, dass die in Berlin sicher nicht diese Almodovar-Variante des Lebens kennen. Kurz vor der Haltestelle kommt mir plötzlich die Idee, noch etwas weiter zu Fuß und ins Café de Flore zu gehen. Das „Flore“ ist eines meiner liebsten Cafés in Paris. Es gibt weitaus bessere, aber dennoch bin ich sehr gerne dort und trinke meinen Frühstückskakao immer in einer Tasse aus dem dort angegliederten Souvenirshop.
Mein Freund erfreut, in so ein traditionsreiches Café zu gehen und nicht daheim von meiner eher etwas, na ja, ländlichen Küche, abhängig zu sein, spricht die Einladung aus, die Kosten für unseren Lunch zu übernehmen. Ich stimme freudig und dankend der Einladung zu und bemerke, dass uns beiden mit dieser Lösung geholfen ist.
Das „Flore“ ist meist etwas schwierig und es ist, wie es heute bei den Privatsendern immer heißt, eine „Challenge“, dort einen Platz zu finden. Wie jeder weiß, sitzt man nicht draußen und auf gar keinen Fall unten. Ich bin mir sogar sicher, wenn man unten sitzt kommt Thors Hammer durch die Decke und erschlägt einen. Sofort und ohne Warnung. Mein Freund, der Berliner, geht auf einen freien Tisch zu (klar, unten, alles frei), legt seine Jacke ab und will sich setzen. Ich, in Angst und Panik vor Thors Hammer, reiße die Jacke von der Bank und ziehe den schon halb sitzenden ruckartig, ähnlich einer Erste-Hilfe-Übung, in die Höhe. Er bleich und erschrocken, fragt, was los ist. Ich erkläre ihm, dass es nicht möglich, aber auch nicht wirklich verständlich ist, man aber auf keinen Fall unten sitzen darf (von dem Hammer erzähle ich aber nichts…).
Sachte geleite ich ihn zum Treppenaufgang und bereite ihn darauf vor, dass es oben sehr voll sein wird. Im Scherz sage ich dann: „Wenn alles nichts hilft, sitzen wir uns eben an den Tisch von Sonia Rykiel“. Wie absurd. Wir beide lachen und gehen hoch und das Bild, das ich erwartet habe, bietet sich uns. So leer alles unten war, so voll ist es hier oben. Der erste Stock komplett dicht und all die eng zusammengestellten Tische voll besetzt. Ich komme mir etwas blöd vor, den Armen durch das Gedränge zu schieben. Er, so nehme ich an, muss sich vorgekommen, wie in einer U-Bahn in Tokio. Es ist schlimm und ich denke, es wäre den Versuch wert gewesen, unten zu sitzen und den Hammer herauszufordern. Was hätten wir verlieren können?
Als ich mich den Gedanken und fast schon der Verzweiflung hingebe, sehe ich, inmitten des Gewusels und Gewühls einen kleinen quadratischen Tisch, wie eine Insel im weiten Meer. Fast leer, nur mit einer Person… Sonia Rykiel. Mein Freund: „Woher…“, ich: „Hab‘ ich nicht…“. Wie unangenehm. Noch auf der Treppe die Klappe weit aufgerissen und jetzt das. Mittendrin. Kneifen geht nicht, zurück auch nicht, denn wäre ich zurück zur Treppe, hätte er sicher einen Hammer aus seiner Tasche gezogen. Das wollte ich nicht riskieren. Mit festem Schritt, den ich in so Situationen meist habe, und einem besseren französisch als bei meinem Margiela-Abenteuer, gehe ich auf den Tisch zu. Ich mache ein freundliches Gesicht und frage höflich, ob noch zwei Plätze für uns frei wären. Insgeheim gehe ich davon aus, dass Frau Rykiel gar nichts sagt und mir schweigend den Rauch ihrer Zigarette (man durfte damals noch rauchen) ins Gesicht bläst. Ein Moment der Schande.
Aber es kommt anders. Ganz Pariserin sagt Madame: „Ah, oui, bien sûr“, schiebt ihren Pelzmantel (ich glaube, es war ein riesiger toter Bär) beiseite und drückt sich das ausladende flammende Haar näher an den Kopf und macht uns damit nicht nur Platz, sondern auch eine große Freude. Wir sitzen also, voilà, am Tisch mit Sonia Rykiel. Heute wäre das mit Selfie sofort im Social Media und wir hätten Frau Rykiel hemmungslos damit überrannt. Aber so was gab es damals zum Glück noch nicht. so war es ein recht privater Moment.
Nun, was isst man, wenn man mit Sonia Rykiel am Tisch sitzt? Ich schaue auf ihren Teller. Sie hat sich ein Sandwich bestellt. Es ist faszinierend, denn manchmal ist etwas doch mehr, als die Summe seiner Teile. Madame hat das Sandwich auf ihrem Teller „seziert“. Sie hat alles in kleine Gruppen unterteilt, jedem Bestandteil einen Bereich auf dem Teller zugewiesen und letztendlich den Salat und die Tomate gegessen, während Toast, Schinken und Mozzarella unberührt blieben. „Wow, das ist Style“, denke ich bei mir, als ich Madames Collage auf ihrem Teller sehe und schaue in die Karte. War es bis jetzt alles surreal genug, kommt es noch besser, denn beim Blick in die Karte entdecke ich, dass es im Flore tatsächlich eines gibt: ein „Sandwich-Club-Rykiel“.
Ich bin fassungslos und verwirrt. Einer dieser Augenblicke, in denen sich alles im Kopf dreht. Ein Hôtel particulier in Saint Germain. Warum nicht. Geld ohne Ende. Warum nicht. Aber ein eigenes Sandwich? Unglaublich und unerreichbar. Kein Armani, kein niemand hat das. Aber Sonia Rykiel. Und ich sitze mit ihr am Tisch! Es gibt ein TV-Interview mit Frau Rykiel, in dem sie sagt: „Saint Germain, c’est moi“. In diesem Moment wurde mir schlagartig die Bedeutung dieses Satzes klar und ich war so geblendet, dass ich bis heute beim besten Willen nicht mehr sagen kann, was wir uns letztendlich bestellt haben.
Als Sonia Rykiel in diesem Jahr von uns gegangen ist, war es für mich ein schwerer Schlag. Dieser Tag, an dem ich 20 Minuten mit Madame „zu Tisch“ saß, ist einer meiner schönsten Paris-Momente. Und wirklich, was könnte einen großartigen Menschen mehr auszeichnen, als dass ein Sandwich nach ihm benannt wird?
Dieser Gastbeitrag stammt von Marco Fiedler, einem guten Freund und Leser – dem wir ganz herzlich danken!
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thomas
23. Dezember 2016 at 11:27You’ve made my day
PeterKempe
23. Dezember 2016 at 11:27Saint Germain c’est moi – die unvergleichliche Sonia Rykiel wie wunderbar Marco, danke für diese tolle Geschichte! Ich bin total verliebt in deine Erzählung! Und ich finde den Satz „Heute wäre das mit Selfie sofort im Social Media und wir hätten Frau Rykiel hemmungslos damit überrannt. Aber so was gab es damals zum Glück noch nicht. So war es ein recht privater Moment.“ wunderbar. Mir geht es immer genau so, ich genieße eigentlich lieber den Moment genieße als ihn mit hektischem Groupie-Getue zu vergeuden. Ein wunderbares Weihnachtsgeschenk, danke Marco!
Siegmar
23. Dezember 2016 at 11:33wunderbarer Artikel, danke und auch an die tolle Franca Sozzani RIP
Roman
23. Dezember 2016 at 12:50Eine schöne Geschichte. Hat Spaß gemacht zu lesen
Stephanberlin
23. Dezember 2016 at 17:31Natürlich will man nach dem Lesen der Geschichte SOFORT nach Paris fliegen und da oben sitzen!
Aber sie kam mir ganz normal vor, da oben muß man doch immer mit sowas rechnen, non??? Karl Lagerfeld saß aber trotz allem früher auch manchml unten gleich rechts vom Eingang im einem toten Winkel, almost unseen!