(Bild: Courtesy of Gucci)
Eigentlich sind die Cruise Kollektionen aus den Garderoben entstanden, die die Passagiere auf den Kreuzfahrten oder den Überfahrten trugen. Da solche Fahrten meist nach Weihnachten stattfanden, handelte es sich bei den Entwürfen um die Sachen, die zwischen der Winter- und Sommerkollektion gebraucht wurden, um gut angezogen durch die einzelnen Klimazonen zu kommen. Das hat sich in den letzten Jahren komplett geändert und so sind daraus, besonders in den „Leading 5“ der Modehäuser, also Chanel, Louis Vuitton, Dior, Prada und natürlich auch Gucci, eigenständige und umfangreiche Saisons geworden.
Gezeigt werden die Cruise Kollektionen meist an Orten, die mit Reisen zu tun haben. Das hat die Folge, dass die Fashioncrowd alljährlich im Mai um den halben Erdball reist, um dabei zu sein, wenn die Entwürfe an exotischen oder besonderen Plätzen präsentiert werden.
Nach Havanna bei Chanel und Louis Vuitton in Rio de Janeiro, ging es für zwei Ereignisse in das Land, das seit 1952 von Queen Elisabeth II. regiert wird. Das Land steht wie kein Zweites für modische Gegensätze und verbindet die Strömungen fast aller Jugendkulturen: England. Nachdem am Donnerstag in Blenheim Palace in der Grafschaft Oxfordshire im Stammsitz der Churchills eine Sternstunde des englischen Country Lifestyle von Dior zelebriert wurde, zeigte Gucci nun die Cruise Kollektion in London.
Alessandro Michele hatte für die Cruise Kollektion 2017 die Vision, seine Version von modernem Glamour und üppigster Exzentrik an einem Ort zu präsentieren, der gotische Romantik versprüht.
Michele liebt London, seitdem er als Siebzehnjähriger das erste Mal dort war. Er wurde sofort von den Gegensätzen der typisch britischen Codes und der Punkkultur beeindruckt. Hinzu kam natürlich für ihn – als Sohn von Bühnenbildnern – die überwältigende Historie des Inselstaates.
Die Location war eine Weltpremiere: Noch nie wurde eine Modekollektion in den heiligen Hallen des anglikanischen Klosters von Westminster Abbey gezeigt. Briten sind sehr tolerant und so gab die britische Kirche ihr Go zu dieser Veranstaltung.
In Westminster Abbey liegt die Wiege des britischen Königshauses. Seitdem Wilhelm der Eroberer hier im Jahr 1066 gekrönt wurde, dient die Kirche als der Ort, in dem traditionell die Könige von England gekrönt und beigesetzt werden. 1953 wurde Elisabeth II. in dem Gotteshaus gekrönt – die Zeremonie wurde live im Fernsehen übertragen, was damals eine Sensation war.
Die große Liebe von Alessandro Michele gilt aber seit jeher dem elisabethanischen Zeitalter im 16. Jahrhundert. Für Michele ist Elisabeth I. der erste „Rockstar“, der auf vielen Gemälden von Höflingen umgeben war und Renaissanceroben in prachtvollen Farben trug und die sie mit opulenten Stickereien versehen ließ. Elisabeth I. ist einer seiner Stilvorbilder, die er perfekt in sein Design integriert und in moderner Form umsetzt.
Was in den 96 Durchgängen zu gregorianischer Chormusik wie in Zeitlupe über den Laufsteg paradierte, war wie ein Feuerwerk eines vor Ideen überbrodelnden Vulkans oder der Speedversion der „Zeitmaschine“ von H.G. Wells aus dem Jahr 1898.
Im Interview mit Tim Blanks in Business of Fashion erklärt Alessandro Michele seine Philosophie für Gucci damit, dass er immer etwas hinzufügen möchte. Genau so sind seine Kollektionen aufgebaut: er will Lieblingsstücke schaffen, die immer wieder wie in einer Geschichte ergänzt werden und die aufeinander aufbauen – als würde man alte Kleidungsstücke neu veredeln: Mal mit Blumen bemalen, mal mit Patches versehen, oder so, als würde man Nieten auf eine alte Jeansjacke bringen.
Eines sei für diejenigen, die nur die Gesamtheit der Looks sehen, vorweggeschickt: es handelt sich bei Alessandro Micheles Entwürfen um ein Märchen, aus dem jeder seine Scheibe abschneiden kann. Man nimmt sich Einzelstücke, die man zu einem eigenen Stil interpretiert und kombiniert.
Michele zeigt die Vision von Gucci. Er setzt um Gottes Willen nicht voraus, dass wir im Komplettlook durch die Innenstädte laufen – was dazu führen könnte, dass man schon morgens im Bus ausgelacht wird. Asiaten sieht man häufig in den gesamten Outfits – das ist zu viel des Guten und zeugt auch nicht gerade von einer persönlichen Linie …
Die Kollektion ist die Quintessenz der Hauptströme englischer Modetendenzen – radikal durch die Augen von Alessandro Michele betrachtet und mit den Codes von „seinem“ Gucci veredelt: Neoromantik mit indischen Kaftanen, eine Art Poetik im Stil der Bloomsbury Group mit Wollkostümen in Cricket-Streifen, elisabethanischer Prinzessinnen-Punk in Tartankleidern, gemixt mit New-Wave-Bomberjacken in Seide mit Bienenstickereien. Die Jungs in Trainspotting- und Skinheadoptik mit Domestosjeans und Doc Martens – durcheinander gewürfelt mit edwardianischer Dandy-Attitüde und Kiltschuhen und Sherlock Holmes- und Boudoir-Kappen aus Samt mit Posamenten besetzt. Highlights waren definitiv die taillierten, nach unten leicht ausgestellten Damenmäntel aus Jacquard im Stil von Oscar Wilde, die Loafer mit Union Jack, Sportsox, Gobelin Pullover und die Schuluniformjacketts.
Das Ganze wurde mit unzähligen Oblaten- oder Hundemotiven der Manufaktur Staffordshire, die im 19. Jahrhundert in den Fenstern der englischen Witwen standen, bestickt. Hinzu kommen jede Menge Blumen, Bienen und die Schlange, die für Alessandro zum Glückssymbol (und zum Verkaufsrenner) wurde. Die Schlange, die den Genius Loci beschwört, meint in der römischen Mythologie einen Schutzgeist – als geborener Römer ist die Schlange Micheles persönliches Element, um die Codes des Hauses zu erneuern.
Die Schlachtfelder der neuen Jugend und deren angesagten Ziele, wie die Festivals Coachella, Glastonbury oder Burning Man, interpretiert Michele bei seine Denimjacken mit Nieten, Sweatshirts mit Guccis grün-rotem Kofferband oder mit dem übergroßen Doppel-G-Logo. Die Perfecto Jacken wurden hingegen zum Teil in Tartanchecks mit Slogans wie „Blind for Love“ ausgeführt.
Es gibt Hunderte Ideen; viel zu viel, um alles beim ersten Blick zu erfassen. Allein im Eröffnungsoutfit findet sich ein Kilt in kanariengelbem Tartan mit Cavalier-King-Charles-Spaniel bestickt, getragen mit einem gestreiften Pullover in Regenbogenfarben, appliziert mit einer Katze, dazu SM-Bottines und eine Handtasche mit der gleichen Kobra, die auch die Einladungen zierte. Die Gucci-Gürtel wurden mit Perlen besetzt und das Logo der Schnalle ist gefühlt doppelt so groß. Zu viel des Guten kann so wundervoll sein …
Michele bereitet jedem, der sich mit Historie oder Modegeschichte auskennt, mit seinen Zitaten und Anspielungen größtes Vergnügen: Patrick-Cox-Assoziationen bei den Loafern, schottische Highland-Schnallen auf den Taschen und den offenen Kiltschuhen, Strümpfe in Argyle-Strick und Kopftücher, wie sie die Queen um den Kopf knotet, wenn sie in Balmoral auf dem Pferd ausreitet. Auf Pelzmänteln lässt Michele als Hommage an Westminster Abbey den Klatschmohn erblühen, der auf den Grabplatten der gefallenen Krieger abgebildet ist.
Fast rauschhaft mögen manchem Alessandro Micheles Linie und seine fundierte Fantasie erscheinen. Er hat eine radikale Vision, mit der er Gucci zu einer der aktuell spannendsten Marken macht. Wie sich seine Modelle verkaufen und er sich selbst weiterentwickelt, ist existenziell wichtig für die Freiräume, die man ihm in Zukunft lassen wird. In London wurde zumindest in der umsatzstarken Boutique auf der Bond Street 300 % Umsatzplus gemacht …
Für mich zeigt Michele, trotz mancher Übertreibung in den Looks und der Überzeichnungen, genau das, was Mode ausmacht: Lebensfreude und Opulenz. Wer Luxus kauft und dafür unendlich viel Geld ausgibt, will auch viel haben – jedenfalls die meisten der Luxuskonsumenten. Und eines sind seine Sachen ohne Zweifel: wie Wimmelbilder, auf denen man ungeheuer viel und immer wieder Neues entdecken kann …
Rule, Britannia! von Alessandro Michele für Gucci Cruise 2017 in Westminster Abbey: Trainspotting meets Edwardian Chic.
René
6. Juni 2016 at 14:06Danke für den erklärenden Bericht. Das wirkt schon wie Fasching auf den ersten Blick. Ich drücke Michele die Daumen dass die Umsätze weiter gut sind!
vk
6. Juni 2016 at 17:32absolutely fantastisch. auch das verlinkte interview sei jedem empfohlen.
Horst
6. Juni 2016 at 18:56Ahhh, super, i love! Domestos-Jeans hatte ja erst vor ein paar Jahren Dries Van Noten, kann man sie also wieder anziehen 🙂
jürgen
7. Juni 2016 at 01:07ich finde es toll aber irgendwie ist es auch wie ein hund aus jedem dorf … und hey horst, du darfst immer selber entscheiden wann du welche jeans trägst 🙂 … ich finde ja domestos cool wenn der rest passt
Gerold
7. Juni 2016 at 03:18Wieder ein wunderbarer Einblick… in die Tiefe dieser Kollektion. Merci beaucoup cher Peter! So glücklich, das es noch Designer wie Alessandro Michele, mit Wissen, Hintergründen, Poesie, Leichtigkeit, Augenzwinkern und Mut gibt. Einer der ganz Grossen. Hoffentlich versteht die Welt ihn und seinen Stil. ich freue mich auf Mehr und Weiteres. <3
Horstson ist einer der wenigen Blogs (Journale) die ich noch lese, da sie mit Herz und Verstand geschrieben sind und nicht vom Kommerz regiert werden. Bravo!!
PeterKempe
7. Juni 2016 at 08:51Danke lieber Gerold, welch wahnsinnig schönes Kompliment und Lob. Wir geben uns Mühe, die Dinge zu erklären, die über Klamotte und das Konsumieren hinaus gehen, um das herauszustellen, was Mode zu einer dekorativen Kunst werden lässt. Ausserdem soll Mode ja in erster Linie eines machen – Spaß!
Gerold
7. Juni 2016 at 10:50Man merket einfach das Ihre es aus Liebe macht und mit Liebe und das Ihr Spass dran habt lieber Peter. Das ist heute leider selten geworden. Eine schönes Gut wenn man das noch findet!
Gucci Spring/Summer 2017 – Novalis romantische Reise | Horstson
24. Juni 2016 at 09:12[…] wenig an Trainspotting erinnern) in Kombination mit weißen Socken. Kiltschuhe blitzen aus der Cruise Collection herüber und werden mit Basketballshorts und Pullundern gemixt. Regenhüte verwandeln sich in […]
Gucci x Peanuts | Horstson
24. August 2016 at 12:16[…] beschreibt die Kollektionen von Alessandro Michele gerne mit „Wimmelbilder der Mode“. Er meint damit, dass man immer wieder etwas bei einer Gucci-Kollektion entdeckt, selbst wenn man […]