(Gucci Herbst/Winter 2020/2021; Courtesy of Gucci; Foto: Anton Gottlob)
Wie doch die Zeit vergeht: Vor genau fünf Jahren wurde Alessandro Michele zum Creative Director von Gucci ernannt. Seit Januar 2015 verantwortet der Italiener alle Kollektionen und das globale Markenimage. Und wie er das macht.
Wie kein anderer Modedesigner krempelte er nicht nur die Marke, sondern auch das System der Mode um. „Das System ist krank, wenn das Marketing dem Designer vorschreibt, wie seine Mode auszusehen hat“, wie Alessandro Michele mal erklärte (Quelle: SZ-Magazin, via Profashionals). Mit dieser Herangehensweise hat er es geschafft, Gucci aus dem Dornröschenschlaf zu küssen und die Marke wieder in aller Munde zu bringen.
In seiner neuesten Kollektion widmet sich Alessandro Michele der männlichen Geschlechtsidentität bzw. dem Einfluss von toxischen Stereotypen. Mehr noch – er stellt die Frage: Wann ist man ein Mann?
Ein dominantes, siegreiches, unterdrückendes Männlichkeitsmodell wird Babys bei der Geburt auferlegt. Einstellungen, Sprachen und Handlungen passen sich allmählich einem Macho-Ideal an, das Verwundbarkeit und Abhängigkeit beseitigt. Jeder mögliche Hinweis auf Weiblichkeit wird aggressiv verboten, da er als Bedrohung für die vollständige Bestätigung eines männlichen Prototyps angesehen wird, der keine Abweichungen zulässt. Michele hat sich für die Herbst/Winter-Saison 2020/21 auf die Fahnen geschrieben, dieses System der phallokratischen Männlichkeit zu ändern oder zumindest infrage zu stellen.
Um dieses Kunststück zu erreichen, schickt der Designer die Models – gleich welcher Geschlechtsidentität – in Entwürfen über den Laufsteg, die, zumindest im Vergleich zu den letzten Kollektionen, als äußerst maskulin beschrieben werden können. Das ist irritierend bei einer Schau, die den Titel „MASCULINE, PLURAL“ trägt, gerade in Hinblick auf das aktuelle Aufweichen von Männlichkeitsidealen. Aber so ist das eben an einem 5. Geburtstag: Da darf man machen was man will, zumindest ist der Hashtag zur Schau – #RaveLikeYouAreFive – ein dezenter Hinweis auf die Freiheit, die sich Michele genommen hat.
Dennoch geht es dem Designer, wie der Pressemitteilung zu entnehmen ist, um die Idee der Männlichkeit, wie sie historisch etabliert wurde, zu dekonstruieren und einen neuen Mann ins Spiel zu bringen, der auch Schwester, Mutter und Braut ist.
Schaut man sich die Kollektion genauer an, fällt auf, dass die Entwürfe ruhiger sind als in den vergangenen Saisons. Klar – zwischendurch poppen Knallfarben auf – aber eben nur noch in Spurenelementen. Es wirkt fast so, als habe Michele das Pferd von hinten aufgezäumt hat: Signature-Looks in den letzten Jahren, jetzt die Basics, mit denen der Träger seinen Gucci-Kleiderschrank einen neuen Drive geben kann. Normalerweise ist es ja genau anders rum: Man kauft ein neues Accessoire, um seine vorhandene Garderobe aufzupeppen, aber was ist schon normal bei Alessandro Michele?
Es geht ihm eben nicht darum, ein neues normatives Modell vorzuschlagen, sondern das freizugeben, was eingeschränkt wurde. Das Brechen einer symbolischen Ordnung, die heutzutage nutzlos ist. Einen Raum der Möglichkeiten zu nähren, in dem das Männliche seine Schädlichkeit abschütteln kann, um frei wiederzugewinnen, was ihm weggenommen wurde. Und dabei die Zeit zurückzudrehen, das Verlernen zu lernen.
Siegmar
16. Januar 2020 at 11:24Er ist großartig.
vk
18. Januar 2020 at 19:47wie immer: hinreissend