„Ganterie Boon“; Antwerpen, Belgien; Fotografie von Jesse Willems, aus The Shopkeepers: Storefront Businesses and the Future of Retail, Copyright Gestalten 2015“
Ausgerechnet „Storefront Businesses and the Future of Retail“ ist der Untertitel des Buches „The Shopkeepers“ aus dem Gestalten Verlag Berlin, das wir euch wärmstens empfehlen möchten. Denn genau die Beispiele aus diesem Buch sind der Beweis dafür, dass Totgesagte länger leben und dass sich der Einzelhandel, wenn er gut gemacht ist, deutlich gegen den nebulösen Dämon „Internethandel“ behaupten kann.
„Cire Trudon“; Paris, Frankreich; Fotografie von Marissa Cox, aus The Shopkeepers: Storefront Businesses and the Future of Retail, Copyright Gestalten 2015“
Gerade gab PRADA bekannt, dass das Unternehmen wegen des sinkenden Umsatzes in den Stores zukünftig mehr auf Großretailer wie Net-a-Porter setzen will. Viele Einzelhändler geben dem Internet die Schuld, dass die Frequenz in den Geschäften zurückgeht. Kaum einer macht sich aber darüber Gedanken, dass es sich dabei nur um einen Teil der Wahrheit handelt. Dass die Umsätze sinken, liegt auch daran, dass sich der Konsument durch die ewig gleichen Storekonzepte, der Austauschbarkeit und von häufig unfähigem Personal gelangweilt fühlt. Inhabergeführte Geschäfte, die aus Berufung und mit großer Individualität und Esprit ihr Business betreiben und viel Persönlichkeit und Energie in ihre Geschäfte stecken, sterben aber angeblich aus.
„Kochhaus“; Berlin; Fotografie von Sebastian Heise, aus The Shopkeepers: Storefront Businesses and the Future of Retail, Copyright Gestalten 2015“
Genau das widerlegt dieses Buch, das nur einige Beispiele zeigt. Mir fallen adhoc die verschiedensten Formen von Läden ein, die genau diese These bestätigen. Ob das große, familiengeführte Textilhaus Fischer am Bodensee, oder der Männerstore Acte.2 in Avignon, Läden wie der Bob Store in Hamburg oder die Inneneinrichter Scala, ebenso in der Hansestadt. Nicht nur, dass sie alle von anfassbaren Enthusiasten und Individualisten geführt werden, die auch meist selbst in den Läden stehen, sie haben alle eine Eigenschaft gemeinsam: Sie lieben ihr Metier und haben eine eigene Handschrift. Sie statten ihre Läden nicht mit teuren und langweiligen Shopkonzepten aus, sondern mischen Vintage und neue Möbelstücke so eigenwillig zusammen, dass man jedes Mal in eine andere Welt entführt wird, an der man einfach teilhaben möchte und in der man gern bereit ist, sein Geld auszugeben.
„Pärlans Konfektyr“; Stockholm, Schweden; Fotografie von Joline Fransson, aus The Shopkeepers: Storefront Businesses and the Future of Retail, Copyright Gestalten 2015“
Die großen Modemarken setzten jahrzehntelang darauf, ihre Läden gleichförmig einzurichten und parallel den vermeintlich bequemen Weg der Webstores zu gehen.
Jetzt ist doppelt schwer, Hunderte von Filialen zu individualisieren. Positive Beispiele wie Aesop, die in jeder Stadt individuell auf die Standorte eingehen und kein Laden wie der andere aussieht, bleiben die Ausnahme. Gucci hat aktuell erkannt, dass die Läden individueller werden müssen, können aber nur step-by-step die Filialen umbauen, da selbst ein Konzern wie Kering nicht über Geld in Unmengen verfügt.
„Little Catch“; Shanghai, China; Fotografie von Drew Bates, aus The Shopkeepers: Storefront Businesses and the Future of Retail, Copyright Gestalten 2015“
Gerade bei den Global Playern fallen nur wenige auf, die enorme Umsätze machen und nicht der Entwicklung der letzten Jahre des Einzelhandels ausgesetzt zu sein scheinen. Chanel setzt, bis auf Kosmetik, gar nicht auf’s Internet. Die Produkte sind ausschließlich in Läden erhältlich – man will den Kontakt mit den Kunden nicht verlieren und seine Klientel sehen. Eine absolute Ausnahme und ist mit keiner anderen Marke vergleichbar …
„Ganterie Boon“; Antwerpen, Belgien; Fotografie von Jesse Willems, aus The Shopkeepers: Storefront Businesses and the Future of Retail, Copyright Gestalten 2015“
Der Erfolg der individuellen Einzelhändler beruht, schaut man genau hin, trotz verschiedener Varianten von Modernität oder Retrostyle, auf einer Gemeinsamkeit. Alle sprechen die Sehnsucht nach Althergebrachten und dem Ursprung des Handels an. Persönlicher, kompetenter Kontakt, sorgsam ausgesuchte Ware, die eine Geschichte hat und erzählt. Handelt es sich um eine Dienstleistung, wird sie mit Freude und meist „artisanal“, also in handwerklicher Tradition, ausgeführt. In den Läden wird man verwöhnt, ernst genommen und meistens, auch das eine Gemeinsamkeit der erfolgreichsten Konzepte, sehr bodenständig behandelt – alles Dinge, die in den letzten Jahren und bei den großen Marken jahrzehntelang den Bach hinuntergegangen sind. Luxus wurde hochnäsig oder auch kalt vermittelt. Gleichförmigkeit und immer schnellere Sortimentsrotation wurden zum Maßstab.
„P.G.C. Hajenius“; Amsterdam, Niederlande; Fotografie von P.G.C. Hajenius, aus The Shopkeepers: Storefront Businesses and the Future of Retail, Copyright Gestalten 2015“
Fast alle Manager, die heute Luxuskonzerne oder Einzelhandelsketten führen, sind zwischen 40 und 50 Jahren und von einer Generation erzogen, die sie mit den Werten des immer mehr und immer steigenden Umsatzes und Wachstums prägte. Besonders in Europa eine logische Entwicklung, denn für die Generation unserer Väter ging es immer nur darum, eine vermeintliche Verbesserung zu erzielen. Dass auch mal Zeiten aufkommen könnten, in denen es nur geradeaus oder auch mal bergab geht, stellt jetzt viele Marken, Konzerne und Retailer vor scheinbar unlösbare Probleme.
„New York Barbershop“; Rotterdam, Niederlande; Fotografie von Tim Collins, aus The Shopkeepers: Storefront Businesses and the Future of Retail, Copyright Gestalten 2015“
Genau das wird auch in The Shopkeepers – Storefront Businesses and the Future of Retails sichtbar. Alle Inhaber, die ihre Läden darin vorstellen, eint, dass sie garantiert nicht für Statistiken und schnelles Wachstum, sondern für einen guten Lebensunterhalt und die Sicherung der Qualität im Kleinen arbeiten. Keiner verkauft etwas, das er nicht mag, nur weil es Geld bringt. Die Storebetreiber achten alle auf Nachhaltigkeit und verkaufen Produkte, die im wahrsten Sinne des Wortes ihren Preis wert sind. Vergleicht man heute den Handel, findet genau so ein Umbruch statt, wie vor 150 Jahren, als Aristide-Jacques Boucicaut das Warenhaus erfand und viele kleine Händler um die Departmentstores ausstarben.
Heute ist das Internet das Warenhaus der Gegenwart und die Kaufhäuser haben damit zu kämpfen, dass sie vom Multiretailer zu fast reinen Textil- und Parfümerieläden werden und ihre Rolle verlieren. Gewinner ist der traditionelle inhabergeführte Einzelhändler mit Ideen und Persönlichkeit – wenn er sich auf die Werte besinnt, die ihn unterscheidbar machen. Ich schreibe das aus der Sicht von jemanden, der erfolgreich fünfzehn Jahre genau diesen Weg gegangen ist.
Wer neue Wege geht, mit Liebe, Ausdauer und der Demut vor den wunderbaren Möglichkeiten dieses Berufsstandes, kann durchaus erfolgreich sein. Und er kann dann auch noch Spaß haben, denn der Kontakt mit Menschen ist etwas Wunderbares. Internethandel wird niemals, wie oft befürchtet, den individuellen Handel verdrängen – eine Erkenntnis, die auch „The Shopkeepers – Storefront Businesses and the Future of Retails“ in dem wunderbaren Fazit zusammenfasst: Der Einzelhandel ist tot – lang lebe der Einzelhandel!
The Shopkeepers: Storefront Businesses and the Future of Retail, Copyright Gestalten 2015“
The Shopkeepers – Storefront Businesses and the Future of Retails
Robert Klanten, Sven Ehmann, Sofia Borges
ISBN: 978-3-89955-590-5
Gestalten Verlag Berlin
Martin
18. April 2016 at 15:27Toller Tip, schöne Bilder!
Siegmar
18. April 2016 at 15:30super, schöne Bilder und Anregungen, hier in Berlin gibt es einige Läden die zu empfehlen sind.
Martina
18. April 2016 at 19:40Wichtiger und richtiger Artikel! Ich kaufe so gut wie nichts Online, manchmal geht es aber fast nicht anders.
Serven
18. April 2016 at 20:02Es lebe der Einzelhandel. Er ist wichtig. Ausser Waren gibt es dort auch immer ein Gespräch,
die Vertrautheit, andere Kunden usw. Internet gut uns schön. Ich bin kein grosser Fan davon.
Mein Traum seit Jahren ist, dass um 17h das Internet ausgeschaltet wird. Das wäre ein schönes
Leben. Erst jetzt sieht man, wie damals die Abende stressfrei waren.
Gut, dass Leute wie Martina oben, „analog“ kaufen. 🙂
Nur, was ich nicht verstehe ist, warum man im Einzelhandel so blöd aussehen muss, wie auf
den Fotos? Gehört es dazu, dass man als Friseur oder Händel aussieht, wie aus einem Tim
Burton Film?
PeterKempe
18. April 2016 at 20:54Serven, da muss ich sofort herzlich lachen – besonders bei den Barber Shops fällt mir auf, dass alle gleich aussehen! Aber es gibt auch Ladenbetreiber, die toll individuell aussehen oder ihren eigenen Stil haben, der nicht wie bei Tim Burton ist …
Serven
19. April 2016 at 10:48@ PK
Da gebe ich recht. Es hat sich dieser Zwangsindividualismus eingeschlichen. Besonders in den Friseurläden sehen sie aus, wie aus einer Sherlock Holmes Verfilmung und daher auch alle gleich. Vielleicht legt sich dieser Trend irgendwann zu Gunsten von eigenem Stil, das wäre wünschenswert. In so Büchern allerdings liebt man das spektakuläre. Daher wohl die ganzen unsinningen und daher auch unsinnlichen Fotos. Es gibt wirklich tolle Läden und man sollte sie auch nutzen, und dort einkaufen und nicht nur probieren und dann günstiger das probierte Teil im Internet kaufen. Das macht die Einzelhändler leider kaputt.