(Chanel Haute Couture Herbst-Winter 2020/21; Bild: Mikael Jansson)
Eines schon mal vorweg: Natürlich war man gespannt auf die Präsentation der Haute-Couture-Kollektion von Virginie Viard für Chanel bei der diesjährigen Online-Haute-Couture-Woche für Herbst-Winter 2020. Wie löst Chanel die Schwierigkeit, keine wirkliche Show inszenieren zu können und sich der Veränderung durch die COVID-19-Pandemie und dem totalen Lockdown zu stellen?
Chanels Gründerin, Gabrielle Chanel, legte in einer Zeit, in der sich die Gesellschaft grundlegend änderte – während des Ersten Weltkrieges – die Grundlagen für eine moderne Frauenkleidung. Sie zog ihre Designkonsequenz aus der Beobachtung, das gesellschaftliche Ereignisse wie Bälle und Partys nicht mehr möglich waren und die Frauen arbeiteten. So erdachte Chanel eine völlig neue und äußerst unprätentiöse Garderobe. Diese Schlichtheit sollte die Schränke der Frauen nie mehr verlassen.
Selbstbewusst schnitt Chanel ihre Haare ab, gab praktischen, kürzeren Jersey-Ensembles den Vorzug und veränderte die Silhouette. Diese Reaktion auf unruhige Zeiten war das kreative Echo auf eine Gesellschaft, die sich in wenigen Jahren maßgeblich veränderte. Vergleicht man die Linie von 1913 mit 1920 – es scheinen Jahrzehnte dazwischenzuliegen.
Diese Herangehensweise erinnert ein bisschen an die Situation, welche die Haute Couture auch in diesem Jahr erlebt – verstärkt durch die Umstände des totalen Lockdowns in Frankreich. Die Haute-Couture- sowie die Paraffection-Ateliers von Chanel engagierten sich stark für die Unterstützung der Krankenhäuser. Sie produzierten in großen Stückzahlen Masken und medizinische Kleidung, was die Kapazität der letzten Monate beanspruchte. Trotzdem entschied man sich dafür, eine zwar kleinere, aber dennoch sehr konzentrierte, Haute-Couture-Kollektion zu kreieren. Es gilt das Credo, qualifizierten Arbeitsplätze zu sichern und gleichzeitig die positiven Zukunftssignale eines Wirtschaftszweiges, der zur Kultur Frankreichs gehört, in die Welt als Ermutigung zu tragen.
Chanel steht, fest verankert in den meisten Köpfen, für opulente Schauen im Grand Palais, die stets in einem beeindruckenden Dekor stattfanden. Eine Reaktion, von Karl Lagerfeld auf den Zeitgeist der nach 2000 stattfindenden Megaexpansion der Luxusbrands. Die Zeiten haben sich verändert und das Haus Chanel reagiert, wie schon mehrmals in seiner über hundertjährigen Geschichte, äußerst diskret und mit Fingerspitzengefühl. Die Zeitlosigkeit des Chanel-Stils hat auch mit der Weitsicht seiner jeweils für das Design verantwortlichen Persönlichkeiten zu tun, die immer den Zeitgeist verstanden und sensibel seinen Wandel in dessen Geiste vollzogen. Gabrielle Chanel und Karl Lagerfeld, ebenso wie Virginie Viard ihn dem heutigen Leben anpasst.
Im Endeffekt, wie ich auch schon in meinem Dior-Bericht geschrieben habe, geht es besonders bei der Haute Couture um das Handwerk. Es ist die Kollektion, die am dichtesten an den Kunden, die die Kleidung bestellen und tragen, dran ist. Das ist auch der Grund, warum die Haute Couture unmittelbar vor der Saison gezeigt wird und die Kundinnen die Möglichkeit hat, sie direkt zu bestellen: Die Trägerinnen können dann auch die Anlässe bzw. die Möglichkeiten abschätzen, wann sie welches Modell tragen.
Chanel Haute Couture Herbst-Winter 2020/21; Bild: Sarah van Rij
Virginie Viard, seit mehr als dreißig Jahren bei Chanel, legt ihren Fokus meisterhaft genau auf das, was in den letzten Jahren manchmal vergessen wurde, was aber die wirkliche Essenz einer Schau ist: die Looks und die Details. Mit dreißig Modellen komprimiert sie ihre sehr tragbare, moderne Haute-Couture-Kollektion und lässt, raffiniert gewürzt, den handgewebten Couture-Tweed und den typischen Chanel-Codes den fokussierten Auftritt, der mit Details der verschiedenen meisterhaften Techniken der Paraffections-Ateliers gespickt ist.
Während die Haute-Couture-Kollektion Frühjahr-Sommer 2020 von der Einfachheit und Genauigkeit der Abtei in Aubazine, in der Gabrielle Chanel als Kind untergebracht war, beeinflusst wurde, sind die Looks der Haute-Couture-Kollektion Herbst-Winter 2020/21 gekennzeichnet durch ein Wunsch nach schimmernder Opulenz und Schmuck – so wurden bei einigen Entwürfen Juwelen aus den High-Jewelry-Kollektionen des Hauses eingesetzt.
„Diese Kollektion ist mehr von Karl Lagerfeld inspiriert, als von Gabrielle Chanel.“
Virginie Viard.
„Ich arbeite gerne so und gehe in die entgegengesetzte Richtung wie beim letzten Mal. Ich wollte Komplexität, Raffinesse“, erklärte Virginie Viard. „Diese Kollektion ist mehr von Karl Lagerfeld inspiriert, als von Gabrielle Chanel.“ Diese Karte spielt sie perfekt mit mehr als einem Ass im Ärmel aus.
„Ich dachte an eine Punk-Prinzessin, die im Morgengrauen aus dem Pariser Kult-Club „Le Palace“ kommt. Mit einem Taft-Kleid, großen Haaren, Federn und viel Schmuck.“ Dazu muss man allen, die nicht mit der gesamten Geschichte Lagerfelds vertraut sind, erklären, dass der Designer dort Ende der Siebzigerjahre große Events veranstaltete, wie 1978 den venezianischen Ball oder auch die Premiere seines Kult-Duftes „Lagerfeld“ mit Barock-Buffets und Kostümen des 18. Jahrhunderts, mit denen alle Besucher eingekleidet wurden. Außerdem war es zu der Zeit so, dass sich in Clubs wie dem „Studio 54“ in New York oder eben dem „Le Palace“ viel mehr als heute, die Nachtschwärmer in Tank Tops und Satin-Shorts mit arrivierten Society-Cliquen in Haute Couture mischten. Karl Lagerfeld liebte es, seine Freunde wie die Prinzessin de Beauvau-Craon, Anna Piaggi, Paloma Picasso oder auch Prinzessin Gloria dorthin zu begleiten – natürlich in opulenten Kreationen von ihm.
„Ich hatte wirklich Karls Welt im Sinn …“, wie Virginie Viard erklärt. „Ich habe über deutsche Gemälde nachgedacht, wie die von Winterhalter, die er am Anfang seiner Zeit bei Chanel als Inspiration nahm.“ Die Winterhalter Haute Couture 1988 war die erste Kollektion, an der Virginie Viard entscheidend mit arbeitete – kurze Kleider mit geschnürten Taillen und an gekrausten, weichen Kuppelröcken in Seidentaft rascheln neben langen Kleidern mit einer sehr großartigen Fin-de-Siècle-Silhouette in Samt. Die Kreuzstickerei auf einem grauen Taft-Kleid ist eine Hommage an die großen Goldkreuze der Hip-Hop-Kollektionen Anfang der Neunzigerjahre. Virginie Viard scheint die Kreuze sehr zu lieben, denn sie tauchen häufiger in ihren Chanel-Kollektionen auf. Wie moderne heutige Heldinnen, entsteigen sie den Tableaus des 19. Jahrhunderts um, sehr heutig, chanelisiert zu werden.
Chanel Haute Couture Herbst-Winter 2020/21; Bild: Sarah van Rij
Der Mittelpunkt bei den Materialien liegt auf raffiniertere Tweeds und Stickereien, die entweder bestimmte Akzente betonen oder Kleider und Jacken überziehen. Das Neuartige dabei sind Tweeds, die komplett aus Stickereien oder Stickerei-Elementen wie Bändern etc. bestehen. Dazu bedarf es des Hand-in-Hand-Arbeitens aller Ateliers: Alle Handwerkspartner von Chanel, einschließlich der Métiers-d’Art-Ateliers Lesage und Montex sowie Lemarié und Goossens, haben zu den kostbaren Tweeds beigetragen, die mit Pailletten, Strass, Steinen und Perlen verziert sind. Einige Materialien haben bereits kleine Schmuckstücke, Schmetterlinge oder auch Steine eingearbeitet, zusätzlich wurden sie noch aufwendig bestickt. „Haute Couture ist für mich von Natur aus romantisch. In jeder dieser Silhouetten steckt so viel Liebe“, wie Virginie Viard erklärt. Und unendlich viel Arbeit, möchte sofort ergänzen.
Schwarz, Anthrazitgrau und Marine bilden von den Farben die Basis der Kollektion. Typische Haute-Couture- und Chanel-Farben wie Pink, Fuchsia und Lipstick-Red bilden die Akzente und lassen die Tweeds und Looks zum Leuchten bringen.
Ein diamantartiges Geflecht schmückt, anstatt der Chanel-Tressen, die tintenschwarzen Hosenanzüge, kurze Kleider und ein Kostüm, das eines der schönsten typischen Chanel-Kostüme der letzten Jahre ist. Es symbolisiert als absoluter Key Look nicht nur die „Punk Princess“, sondern scheint voller Glamour die Quintessenz von Chanel zu sein. Sicherlich das Modell, das auf den Wunschlisten der Couture-Kundinnen als Erstes mit drei Kreuzen versehen wird. Handbemalte Chanel-Galons (die Herstellung wird wunderbar in einem der Ateliervideos von Loïc Prigent von einer Nachfolgerin von Madame Pouzieux erklärt) säumen Jacken aus Tweed, gewebt aus silbern schillernden Bändern. Ein 3/4-langes Tweed-Chasuble mit einer geraden Taille wird über einer sich verjüngenden Flair-Hose aus schwarzem Wildleder getragen – das ultimative Zeichen einer Ultra-Rock-Romantik.
Der eigentliche Präsentationsfilm war eher zum Unterstreichen der Looks gedacht und kein Schauenersatz. Etwas, was dem Haus Chanel Eigen ist, die Diskretion, und etwas, dass sicherlich auch Karl Lagerfeld gefallen hätte: Alles zu seiner Zeit, war die Devise des Mannes, der nicht nur ein admirables Gespür für den Zeitgeist hatte, sondern auch stets wusste, wann man welche Akkorde anschlagen musste und die leisen zurückhaltenden Nuancen genauso perfekt beherrschte, wie die lauten. Die Konzentration auf die Looks und das Handwerk, sind das, wofür die Chanel-Couture von Anfang an steht: das Träumen nicht zu verlernen – auch nicht in harten Zeiten. Ein Credo, das Gabrielle Chanel von einer harten Jugend an dazu beflügeln sollte, die berühmteste Modeschöpferin der Welt zu werden und das bis heute den Geist der Philosophie ihrer Nachfolger prägt …
‘In the Haute Couture Ateliers’ a Series With Loïc Prigent — Episode 1
‘In the Haute Couture Ateliers’ a Series With Loïc Prigent — Episode 2
‘In the Haute Couture Ateliers’ a Series With Loïc Prigent — Episode 3
JayKay
28. Juli 2020 at 11:49Schöner Artikel. Danke.