Dass es bei fast allen Luxushäusern Anfang Mai eine Kollektionspräsentation gibt, geht eindeutig darauf zurück, dass Karl Lagerfeld im Jahr 2000 eine Tradition wieder aufleben ließ, die 1919 von der Gründerin des Hauses Chanel für ihre Boutique in Biarritz erfunden wurde. Für die Aufenthalte an der See kreierte Coco Chanel einfachere Kleider, bequeme Dinge zum Spazierengehen und Accessoires, die man in der Sommerfrische tragen konnte. Heute, im Zuge der Globalisierung, braucht man auch im Winter leichtere Materialien und Stoffe und so hat sich die Cruise, die Ende November in die Läden kommt, zu einer stärksten Kollektionen des Hauses entwickelt. Andere Modelabel adaptierten diese Idee und so gibt es jetzt eine Art zusätzliche Saison – auch auf dem Kalender der Fashioncrowd. Dass dabei die Locations immer exotischer werden, zeigt sich in diesem Jahr, wo Louis Vuitton in Malibu zeigte und Chanel in Südkorea.
Südkorea ist das erste Ziel, das nichts mit der direkten Historie von Chanel zu tun hat. Das asiatische Land gilt aber als einer der Hauptmärkte für Luxusprodukte in Fernost und zudem als Drehkreuz des gesamten Flugverkehrs der Region. Keine Duty-free-Shops sind größer als die in der südkoreanischen Hauptstadt, nirgendwo werden höhere Umsätze gemacht …
Korea ist eine der ältesten Kulturen Asiens und unterscheidet sich in der Stilistik grundlegend von der chinesischen und japanischen. Die Farben, die Traditionen und das Handwerk sind Dinge, die Karl Lagerfeld seit jeher faszinieren. Koreaner sind Meister der Keramikkunst und koreanische Lackarbeiten lassen sich zauberhaft als Stickereien umsetzen. Ihre Eigenheit auf schwarzem Grund, grafisch und, trotzdem sie Jahrhunderte alt sind, modern und poppig wirken, beeindrucken Lagerfeld tief. Außerdem liegen für den Designer die Spannungsbögen, die ihn zu neuen Kollektionen inspirieren, in den Gegensätzen. Korea ist traditionell aber avantgardistisch zugleich, nirgendwo liegen Vergangenheit und Zukunft so nahe beieinander wie in Seoul. Nachdem dort 2014 die Culture Chanel Ausstellung „L’Esprit des Lieux“ stattfand, wurde am letzten Montag im Dongdaemun Design Plaza die Chanel Croisière Kollektion 2015/16 präsentiert.
Ohne rechte Winkel und gerade Linien stellt sich das von Zaha Hadid entworfene weltweit größte neofuturistische Gebäude als zusammenhängende Symphonie klarer, ununterbrochener Kurven dar. Wie ein außerirdisches Raumschiff, das in Seoul gelandet ist, fügt sich die Silberkonstruktion mit einer Größe von 86.574 Quadratmetern nahtlos in die urbane Landschaft mit ihren fließenden, harmonischen Linien ein. Es ist wie alles in Seoul modern und trotzdem spirituell. Dennoch schließen sich hier Moderne und Spiritualität nicht aus. Neben hochtechnologischen Entwicklungen sind die Religionen Buddhismus, Konfuzianismus und Schamanismus weiterhin ein essenzieller Teil der südkoreanischen Lebensart. Kein Gebäude wird ohne ein Ritual zur Besänftigung der Geister errichtet und der weitverbreitete Glaube an die Philosophie von Yin und Yang spiegelt sich in der Flagge sowie den traditionellen Farben des Landes wider.
Farbenfrohe Glücksbringer, die göttlichen Schutz versprechen, finden sich überall im Alltag: ob auf traditionellen, von der Joseon-Dynastie (1392-1910) inspirierten Kostümen – Hanbok genannt – oder auf den Gesichtern junger Bräute, die ihre Wangen mit zwei roten Punkten zieren. Naturverbundenheit ist ein weiterer Bestandteil der nationalen Identität. Koreaner verbringen ihre Zeit gerne beim Wandern in den Bergen, ausgestattet mit der neusten Sportausrüstung, oder auf der sechs Kilometer langen neu gestalteten Uferstrecke entlang des Cheonggyecheon im Herzen der Hauptstadt.
Als Phänomen zwischen Tradition und Avantgarde hat sich die sogenannte Koreanische Welle entwickelt: eine popkulturelle Bewegung mit unstillbarem Durst nach Pop-Musik, Filmen und TV-Serien – in diesem Teil Asiens können die Protagonistinnen beliebter Fernsehserien mutmaßlich ganze Generationen beeinflussen – aus dem eigenen Land, die sich, nicht zuletzt dank der sozialen Netzwerke, über die ganze Welt ausbreitet. Der „K-Pop“.
Dass Karl Lagerfeld aus diesen Spannungsbögen nun eine „chanelisierte“ Form entwirft, beweist die Kollektion wunderbar. Sam McKnight entwarf Mangafrisuren und selbst die „Mary Jane“-Stiefeletten erinnerten in diesem Kontext an das Land, welches die Inspiration für die Kollektion lieferte. Das Make-up war flächig und von großer asiatischer Zartheit.
Honan- und Tussah-Seide gelten in dieser Kollektion als asiatische Antwort auf den Tweed aus der Rue Cambon. Die breite Farbpalette, die an Pop-Art erinnert, durchzieht die Kollektion wie ein Farbrausch: Fuchsia, Pink, Céladon, Mintgrün, knalliges Orange und Koralle, Royal Blau …
Schon das Dekor der Schau – reines Weiß mit „Smartie“-Hockern und Dots in Knallfarben, ließ Geschmack auf das Feuerwerk der Kollektion aufkommen. Selbst Chanels Kamelie wurde grafischer, denn in den koreanischen Mustern wird gern Florales ins Geometrische umgesetzt.
Die Silhouette: Jacken mit abgerundeten Schultern, weiten Ärmeln und koreanischen Krägen, „Peter Pan“-Ausschnitte und hochgezogene Bustiers zu fließenden weiten Hosen. Röcke, ausgestellt oder gerade, enden am Knie, wohingegen bei den Kleidern pure Silhouette und verspielter Dekor gekonnt gegeneinandergesetzt wird.
Der Hanbok, die koreanische Tracht, die über der Brust mit einer Schleife gebunden in eine weite Silhouette übergeht, wird immer wieder zitiert oder gleich in eine Reihe von neu interpretierten Abendkleidern umgesetzt. Breites Colour-Blocking, gestickt oder in grafische Kaleidoskop-Muster zerlegt, finden sich an fast jedem Modell wieder.
Stickereien von Lesage und Montex übertragen die feinen floralen Arabesken der koreanischen Lacke auf Tuniken, die asymmetrisch das „Ying und Yang“-Motiv aufnehmen. Bei den Materialien spielt Lagerfeld mit festen und luftigen Stoffen. Als Gegensatz dazu wird Broderie Anglaise auf texturierter Baumwolle, Lackleder und Leinen, Organza, Tüll, Spitze zur typischen Shantung Seide der Region eingesetzt.
Von unglaublicher Raffinesse und das erste Mal in solcher Vollendung sind die Gazar Mosaike und Quilts, die fast an Haute Couture grenzen. Ob in einer oder mehreren Lagen verarbeitet, wirken sie trotz ihrer Transparenz und trotz ihrer asiatischen Inspiration wie kubistische Kunstwerke. Eine der Lagerfeld am stärksten faszinierenden Kunstperioden, die er für das Jahr 2016 in Weiblichkeit verwandelt. Wirklich neu und spektakulär!
In den fast 100 Looks gibt es viel zu entdecken – ganz gleich ob Silhouetten, Farben oder Materialien. Dank Lagerfelds ganzheitlichem kulturellen Ansatz lernt man viel über ein Land, das sicherlich vielen von uns unbekannt ist. Trotzdem schafft er es auch, dass die Kollektion zu hundert Prozent Chanel ist und europäischen Bedürfnissen gerecht wird.
Einer meiner Lieblingslooks ist die Streifenjacke aus Linton-Baumwolltweed in Sorbetfarben. Kombiniert mit einem azurblauen „Dentelle de Calais“-Kleid ist sie sehr parisienne. Trotzdem erzählt die Jacke die Geschichte der Reise nach Seoul. So etwas zu schaffen braucht nicht nur Erfahrung und Können. Es zeigt auch, dass in Lagerfelds Kopf die Globalisierung schon vor Jahrzehnten stattgefunden hat. Stil hat keine Grenzen, man muss ihn nur haben.
Die Chanel Croisière Kollektion 2016 ist feminin und visionär zugleich und zeigte einmal mehr die ungeheuren Facetten von Chanel. Fantasie und den Mut, sie umzusetzen, ist heute für Lagerfeld genauso wenig eine Hürde, wie einst bei Mademoiselle in Biarritz. Sicherlich einer der Gründe, warum Mademoiselles Zauber noch heute auf den gesamten Globus wirkt …