(Jogging Store, 103 Rue Paradis, Marseille; Bild: Thomas Kuball)
Das häufige Klagen über die Gleichförmigkeit des Einzelhandels und fehlender innovativer Konzepte als Gegenpol zum Onlinegeschäft wird immer wieder durch inhabergeführte Läden widerlegt. Bereits in der Vergangenheit haben wir Stores vorgestellt, die den Zeitgeist verstehen und erfolgreich das dagegensetzen, was für die meisten Monobrandstores und Kaufhäuser nicht möglich ist oder verschlafen wurde.
Kleine individuelle Unternehmen können wesentlich schneller reagieren, haben kürzere Entscheidungswege und werden meist von Leuten geführt, die Mode lieben und – vor allem – grenzenlosen Aufwand, Liebe zum Detail und die Arbeit nicht scheuen. Außerdem wissen sie, den stationären Handel mit dem Onlinegeschäft zu verknüpfen, indem sie zwar einen Teil ihres Sortimentes online verkaufen, die besonderen Kollektionen aber ihren Stammkunden vorbehalten, damit die „Internetbesteller“ nicht alles bekommen können. Da die Inhaber viel Aufwand und Energie aufbringen, wollen sie, dass dieses auch ihren Kunden in den Läden zugutekommt. So kann man das, was weltweit ausverkauft und angeblich nicht zu bekommen ist, ganz gemütlich in seinem Lieblingsstore kaufen.
Jogging Store, 103 Rue Paradis, Marseille; Bilder: Thomas Kuball
Die persönliche Beziehung zwischen Laden und Kunden ist in vielen dieser Konzepte, fast wichtiger als die Ware; es geht um Inspiration, ehrliche Beratung und auch darum, dass Menschen genau die Kleidungsstücke, Accessoires, Magazine oder Interieurartikel bekommen, die zu ihnen passen. Die Kunden werden wahrgenommen, sodass in der nächsten Saison im Einkauf das einfließt, was zur Kundschaft passt.
Das hört sich eigentlich altmodisch an, ist aber genau eines der Zukunftskonzepte. Bei Mode geht es nicht um Konsum oder wechselnde Trends, sondern um individuelle Bedürfnisse, die große Geschäfte schon längst nicht mehr erfüllen können.
Ware, Ausstattung, die meistens auch zu kaufen ist und alles, was zum Wohlfühlen einlädt, tragen die Handschrift der handelnden Personen und des Inhabers. ‚Kuratiert‘ nannte man das, als Conceptstores wie Colette aufkamen, heute geht es weit darüber hinaus. Dabei wissen die Besten der Branche, das kühler Avantgardismus längst der Vergangenheit angehört. Das Zauberwort ist die Verbindung von Tradition und Zeitgeist sowie Perfektion immer ein bisschen der individuellen Imperfektion unterzuordnen.
Jogging Store, 103 Rue Paradis, Marseille; Bilder: Thomas Kuball
Ein Paradebeispiel für ein solches Zukunftskonzept ist die seit zwei Jahren in der Rue de Paradis ansässigen Boutique „Jogging Store“ in Marseille. Nur ein paar Schritte entfernt vom Bankenviertel ist in einer alten Metzgerei ein Konzept entstanden, das seinesgleichen sucht.
Olivier Amsellem und Charlotte Brunet hatten den Willen und das Bedürfnis, ihre Sicht der Verbindung von Fashion und Kunst zu vereinigen und fanden, das dieser leer stehende Laden, der zugegebenerweise schon bessere Tage gesehen hatte, der richtige Ort in Marseille war, um genau das zu präsentieren, was ihnen vorschwebte.
Ganz im Sinne ihres Lieblingsarchitekten der nicht allzu weiten Wohnmaschine „Cité radieuse“, der „strahlenden Stadt“ von Le Corbusier, vereinigen Olivier Amsellem und Charlotte Brunet Fashion, Art, Fotografie, Architektur und Vintage Designerstücke. Dazu gibt es eine kleine abgeschlossene Sektion von Aesop ergänzt mit Düften und Kerzen von James Heeley. Der kleine Hof und Garten wird im Sommer zum Lunchrestaurant und gemütlichem Patio, wenn man was trinken möchte.
Jogging Store, 103 Rue Paradis, Marseille; Bilder: Thomas Kuball
Das im Urzustand scheinbar belassene Erdgeschoss, gefliester, einstmaliger „Boucherie“-Verkaufsraum, bietet Künstlern und Designern die Möglichkeit, gemeinsam mit Olivier Amsellem und Charlotte Brunet spezielle Events und Pop-ups zu gestalten. Aktuell arbeitet der Jogging Store eng mit Simon Porte Jacquemus zusammen.
Durch eine fast geheime „Tapeten-Tür“ gelangt man durch ein Treppenhaus, das an das dunkle 18. Jahrhundert Stiegenhaus aus Miloš Formans Film „Amadeus“ erinnert, in die erste Etage, wo es ein Zimmer für Männermode und eines für Frauenkollektionen gibt.
Jogging Store, 103 Rue Paradis, Marseille; Bilder: Thomas Kuball
Designer wie Alyx, Cédric Charlier, Christophe Lemaire, Jaquemus, Gosha Rubchinskiy, Julien David, JW Anderson, Lacoste, Raf Simons, Wanda Nylon, 424 sind nur einige der vertretenden, hinzu kommen Taschen, Schuhe und Accessoires, Modeschmuck und Schnickschnack von Adieu Paris, Amélie Pichard, Charlotte Chesnais, Isaac Reina, Larose Paris, Robert Clergerie, Yazbukey und Uhren von Briston. Eine besondere Verbindung besteht zum Designzentrum der Villa Noailles in Hyères und so sind im ganzen Haus Kunstwerke von Constance Guisset, Big Game, François Azambourg, Hella Jongerius, Ionna Vautrin oder Jean-Baptiste Fastrez vertreten.
Die Brücke zu Marseille und gleichzeitig die besondere Vorliebe der beiden Inhaber schlagen Vintage Interieurstücke, die aber exemplarisch für das Zwanzigste Jahrhundert stehen müssen: Le Corbusier, Charlotte Perriand, Georges Jouve, Pierre Jeanneret, Gino Sarfatti sind nur einige der Stücke, die mir bei meinem Rundgang begegnet sind. Wenn man ein Accessoire anprobiert, schaut man in wunderbare Lederspiegel, die Jacques Adnet in den Zwanziger Jahren für Hermès schuf.
Jogging Store, 103 Rue Paradis, Marseille; Bild: Thomas Kuball
Jogging Store – die Leute dort und die besondere Atmosphäre, dazu eine wahnsinnig gute Auswahl von Mode,die komplett heutig und dazu noch alltagstauglich ist, wird sicherlich nicht mehr lange ein Geheimtipp bleiben. Dazu steht der Laden exemplarisch für eine Stadt, die lange ein – sagen wir mal – schlechtes Image hatte und nun vor Innovation und Ideen zu strotzen scheint.
Der Jogging Store ist jetzt schon auf der Agenda von Designern und Trendscouts, wird aber von zwei Individualisten gemacht, dass das Kopieren schwer werden wird. Denn Olivier Amsellem und Charlotte Brunet sind dann schon längst wieder mit neuen Ideen bewaffnet.
Ein Einkaufserlebnis der besonderen Art, das man erleben muss und das gar nichts mit „Erlebnis Shopping“ der heute so beliebten genormten Masse entspricht.
Wenn man dem Jogging Store erst mal ein Besuch abgestattet hat, möchte diesen Laden immer wieder aufsuchen. Er macht immer wieder neugierig und man möchte dort ganz viel kaufen. Und selbst der härteste Onlinefreak wird dort wieder zum Einzelhandelsfan.
Jogging Store
103, Rue Paradis
13006 Marseille /France
Öffnungszeiten:
Montag: 10.30 Uhr bis 19.00 Uhr
Dienstag bis Samstag: 11.00 Uhr bis 19.00 Uhr
thomas
24. Mai 2017 at 10:45Einer von 1000 Gründen Marseille zu lieben
Markus Brunner
24. Mai 2017 at 11:02super cool
Kai
24. Mai 2017 at 16:17Ehrlich schön, fällt mir kein Äquivalent in Deutschland ein.
Siegmar
25. Mai 2017 at 10:43Sehr gelungen, der Artikel und der Laden und wieder ein Grund mehr um nach Marseille zu kommen. Der Laden ist spannend und erinnert an den Guerilla Store von Comme des Garcons hier in Berlin im Berthold Brecht Haus. Kai, doch es gibt auch bei uns solche Läden, der Voo-store in Kreuzberg und ähnliche Konzept Läden in Kreuzberg und Neukölln.
Jacquemus-Ausstellung – Marseille je t’aime | Horstson
26. Mai 2017 at 09:20[…] ganze Kollektion sehen und auch kaufen will, hat in einem der angesagtesten Läden der Stadt, dem Jogging Store, die komplette Auswahl. Simon Porte Jacquemus ist ein junger Designer mit internationalem Format […]