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Pierre Cardin – Der schlaue Modefuturist

Als Raf Simons im Mai 2015 seine Croisière-Kollektion für Christian Dior im „Palais Bulles“ in Théoule-sur-Mer, nahe dem südfranzösischen Cannes vorstellte, war auch der Besitzer des Hauses, das ein wenig an Barbapapa erinnert, anwesend: Pierre Cardin. Der 92-jährige Cardin ist so etwas wie der Kronzeuge der Modegeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Cardin gilt als der älteste noch aktive Designer. Er hat eigentlich alles erlebt, was die Entwicklung der modernen Fashion beinhaltet. Grund genug, ihn und sein Leben einmal gründlicher unter die Lupe zu nehmen und davon zu erzählen …

Das faszinierende an Pierre Cardin ist, dass wohl den meisten Menschen die Marke bekannt ist, aber den wenigsten die Person dahinter. Im Grunde genommen hat es Cardin erfunden, alles mit seinem Etikett und seiner Kreativität zu versehen. Er gilt als König der Lizenzen und Kreateur der futuristischen Bewegung, die ab 1963 ganz dem Gedanken verfallen war – ausgelöst durch den Wettlauf zum Mond – wie das Leben im Jahr 2000 aussehen könnte. Paco Rabanne, André Courrèges oder Mary Quant wären ohne Cardin nicht denkbar. Seine Kreativität vereint sich, im Gegensatz zu den meisten anderen Modeschöpfern, mit einer unglaublichen Geschäftstüchtigkeit. Bis auf den heutigen Tag hat Cardin niemals einen Kredit aufgenommen oder sich jemals einem Konzern angeschlossen. Er hat zwar nach wie vor die meisten Lizenzen der Welt, aber niemals seinen Namen verkauft. Für viele Konzerne ist er bis heute das unerreichte Vorbild, wie zum Beispiel für Pierre Bergé von Yves Saint Laurent, der es geschafft hat, seine Vision in aller Konsequenz durchzuziehen.
Pierre Cardin_Dressing a Model
Copyright: © Jérôme Faggiano / Archives Pierre Cardin

Wie unvorstellbar lange Pierre Cardin schon im Modebusiness arbeitet, wird einem klar, wenn man auf seine Anfänge im Jahre 1944 schaut. Im Alter von 22 Jahren geht er nach Paris und fängt als Modezeichner bei Jeanne Paquin an. Den Job bei seinem Idol Cristóbal Balenciaga bekommt er hingegen nicht. Für Balenciaga hätte er nur zu gern gearbeitet, hört aber, dass ein neues Modehaus gegründet wird, das im Frühjahr 1947 seine erste Kollektion zeigen wird. Es ist kein geringerer als Christian Dior, der davon träumt, nach einer entbehrungsreichen Zeit, die Frauen wieder feminin und opulent zu kleiden. Cardin bekommt tatsächlich eine Anstellung und arbeitet für Diors „Atelier Tailleur“, in dem die Kostüme gemacht werden. Der Zufall will es, dass Cardin nach der Skizze des Meisters das wohl berühmteste Ensemble der Kollektion, die „New Look“ genannt wurde und die Revolution in der Mode war, nähte. Fast wie eine Episode wirkt sein Job bei Elsa Schiaparelli, bei der Cardin die Kostüme für „Die schöne und das Biest“ von Jean Cocteau anfertigte. Heute ein Meilenstein der französischen Filmgeschichte. Fast wirkt es so, als wäre Cardin immer rein zufällig am rechten Ort zur rechten Zeit gewesen, an dem mal kurz und en passant Modegeschichte geschrieben wurde.
Kenner sagen, das liegt an seiner guten Nase für Fortschritt und seinem wahnsinnig guten technischen Verstand, was Schnitttechnik und Ideen anbetrifft.

Als Person ist Cardin konsequent und charmant. Sein Privatleben präsentiert er niemals in der Öffentlichkeit. Skandale, Beziehungen, lautes Leben? Fehlanzeige: “Mir hat es immer gefallen, durch meine Arbeit zu existieren, und es hat mich noch nie amüsiert, mich zu amüsieren.“ Schaut man darauf, dass Cardin noch heute mehrere Hundert eigene Design und Konzepte im Jahr entwirft, scheint es so, als sei „Workoholic“ das passende Etikett für den Designer.
The young Pierre Cardin
Copyright: © Jérôme Faggiano / Archives Pierre Cardin

1950 gründet Pierre Cardin mit gespartem Geld ein eigenes Couture Haus und hat sofort einen großen und festen Kundenstamm. Er will aber nicht in dem Metier stehen bleiben und konzipiert sofort die Idee, auch ein Prêt-à-porter und vor allem auch eine Männerkollektion anzubieten. Das wird dann auch das Gebiet, auf dem er seine größten Erfolge zu verzeichnen hat und das durch Lizenzvergabe in aller Welt Mitte der fünfziger Jahre sein einträglichstes Geschäft ausmachte. Cardin scheute nicht, neben Stammkollektionen für Accessoires, Socken und Wäsche vom Ausstatter bis zum Discounter Lizenzen zu vergeben. Der gebürtige Italiener mit französischem Pass war schon immer fasziniert von der Demokratisierung der Mode und von der Vorstellung, Luxus und Masse zu verbinden. Für ihn stellte es nie einen Anachronismus da, Haute Couture aber auch Kaufhaus-Kollektionen zu entwerfen. Er ist auf ganzer Linie Perfektionist und ein rasant guter Geschäftsmann, der alle strategischen Entscheidungen stets selbst traf.
Pierre Cardin_Space Suit
Copyright: © Jérôme Faggiano / Archives Pierre Cardin

Einer seiner ersten Arbeitgeberinnen, Elsa Schiaparelli, hatte sich 1938 bereits für das erste Modehaus auf dem Mond vormerken lassen und Cardin wollte den Look dazu erfinden. Raumfahrt, neue Fasern, Vinyl, Kunststoff und technische Stoffe, der Wettlauf von der UDSSR und den USA ins All vorzudringen – die Grundlagen seiner Kollektionen ab 1960 lösten so eine ganze Bewegung aus.
Cardins Frauenbild wirkte zweidimensional, die Kostüme und Kleider flächig und mit möglichst wenig Nähten versehen. Die Schnitte dazu waren äußerst kompliziert, doch er wollte sie bequem und alltäglich erscheinen lassen – versteckte, schlichte Perfektion sollten die Mode vereinfachen. Jerseys und neue gewebte Tricotine machten Cardin auch zum Wegbereiter dessen, was man später als „Purismus“ bezeichnete. Prada und Co. wären ohne seine Experimente nicht denkbar gewesen.

Pierre Cardin war der Erste, der sich mit der Berufsbezeichnung „Designer“ versah und auch Möbel, Geschirr, Gebrauchsgegenstände und Küchenmaschinen unter seinem Namen verkauft. Während 1989 die Pariser Haute Couture noch vor der Wende und Glasnost in der Hälfte der Welt keine Chancen hatte, knüpfte Cardin bereits in den Siebziger Jahren Kontakte nach Russland und China. Er eröffnete seine erste Designboutique in Peking zu Zeiten, als die Mao-Jacke nahezu das einzige Kleidungsstück der Chinesen war und verkaufte im Moskauer Kaufhaus Gum Lizenzprodukte für luxusaffine Kommunisten. Der Vorsprung zahlte sich 1995 aus, als Cardin die Uniformen für die chinesische Post, Polizei und Armee entwarf. Ein einmaliger Coup.

Die Deutschen lernten Pierre Cardin spätestens dann kennen, als Kanzlergattin Ruth Brandt 1971 keinen anderen Wunsch während des Staatsbesuches in Paris hatte, als an der Modenschau von Cardin teilzunehmen. Cardin zeigte damals schon im eigenen Theater – der „Espace Cardin“. Neben Theatern und Beteiligungen an Medien kaufte der Designer auch die Pariser Fin de Siècle-Institution „Maxim’s“ an der Rue Royale. Cardin liebte den Jugendstil des Hauses und die florale Formen und machte daraus gleich einen Konzern mit Dependancen in aller Welt. Und es gibt natürlich die passenden Produkte – vom Keks bis zur Schokolade. Heute in jedem Duty-free-Shop erhältlich …
Palais Bulles_006
Copyright: © Jérôme Faggiano / Archives Pierre Cardin

Viele große Designer machten bei Pierre Cardin die ersten Gehversuche und arbeiteten als Assistenten bei ihm. Cardins futuristischen Möbelentwürfen und Hochhausvisionen inspirierten den jungen Philippe Starck so sehr, dass er der bekannteste Industriedesigner Frankreichs wurde. Immer wieder erfand sich Cardin neu und selbst in fortgeschrittenem Alter brauchte er neue Herausforderungen. So kaufte er 2001 das Schloss des Marquise de Sade in Lacoste in der Provence und viele Immobilien in dem Ort, um im Sommer Festivals zu veranstalten und um einen kulturellen Sommerort zu kreieren.
Cardins Ansatz, immer ganzheitlich zu arbeiten, scheint von dem Drang geprägt zu sein, lange vor der Entstehung der heutigen Luxuskonzerne, der ganzen Welt seinen Stempel aufdrücken zu wollen. Zwar kennt jeder seinen Namen, aber seine Person ist in den Hintergrund gerückt. Trotz Massenmarkt scheint es seiner Attraktivität nie geschadet zu haben und so umfasst Cardins Imperium 800 Firmen mit 850 Lizenzen in 180 Ländern. Die geschäftlichen Partnerschaften sind meist langjährig mit ihm verflochten, wie zum Beispiel das deutsche Textilunternehmen Ahlers, das seit 1992 die Premiumlinie der Herrenkollektionen herstellt.
Pierre Cardin at Palais Bulles
Copyright: © Jérôme Faggiano / Archives Pierre Cardin

Das Jahr 2000 ist längst vorbei und wir sind weder so rumgelaufen, wie es sich Pierre Cardin vorgestellt hat, noch wie im Raumschiff Orion. Doch sicherlich wären die Modetendenzen ohne Cardin nicht nur ärmer gewesen. Auch die Designs der Achtziger und Neunziger wären niemals möglich gewesen. „Wer einmal ein Visionär ist, bleibt auch immer einer – das hat nichts mit Alter zu tun“, sagte Cardin in einem Interview. Das ist es genau, was Mode immer ausgemacht hat und was ihre Triebfeder ist. „Das wäre vielen Designern sehr zu wünschen – dann wird die Mode auch wieder spannender!“ Eine Einstellung, die wir nur unterschreiben können. „Sacre̜ Cardin“, wie Cardin von seinen Mitarbeitern genannt wird, also so etwas wie ein Heiliger, kann etwas, was sonst keiner neben ihn so gut kann: Innovation und Kommerz verbinden.

Vielleicht sollten sich einige Konzerne mal von Monsieur Cardin beraten lassen – noch kann er Auskunft geben …

  • Siegmar
    24. August 2015 at 12:52

    sehr schöner und interessanter Artikel über Pierre Cardin, danke !

  • Tim
    24. August 2015 at 14:24

    Schon ewig nichts mehr von dem gelesen. Danke dafür!
    Mir blutet das Herz, wenn ich Socken bei Lidl von ihm sehe.

  • Monsieur_Didier
    24. August 2015 at 15:42

    …der Meister der Lizenzen…
    von billigen Socken im 10er Pack auf dem Wühltisch über Schreibsets bis hin zum „Maxim“, er hat alles, aber wirklich alles lizensiert…
    ich habe Ende 1990 eine Ausstellung über ihn im Victoria & Albert Museum gesehen und war wirklich geflasht, was er alles gemacht hat…
    sogar seine Möbel-Entwürfe waren spektakulär…
    und er konnte Ende der 70er, Anfang der 80er durchaus mit Thierry Mugler zu vergleichen…
    …danach versandete die Marke leider in der Beliebigkeit und zu vielen Lizenzen…