Eigentlich wäre es die Stelle gewesen, wo wir über die nächste Frühjahrskollektion von Jean Paul Gaultier berichtet hätten. Von der Kollektion wird in diesem Bericht auch die Rede sein und am Ende des Artikels kann man sie sich auch komplett ansehen, aber es ist die letzte Prêt-à-porter Kollektion eines Genies, der die Konsequenzen daraus zieht, dass die zunehmende „Konzernisierung“ den kleineren Modelabels immer mehr die Luft abschnürt und der Rhythmus der Kollektionen immer schneller wird. Linien, Themen und besondere Techniken zu entwickeln ist nur noch Häusern möglich, die über eine riesige Staff verfügen und der Vertrieb über Monostores ist intensiv und kapitalaufwendig. Die Firma um Gaultier hat nicht das Kapital, weltweit Monostores zu eröffnen. Gaultier stammt aus einer Zeit, als Multibrandstores seine Kollektionen neben Montana, Mugler oder Piazza Sempione hängten und Kundinnen sich individuell ihre Looks zusammenstellten …
Wenn sich Jean Paul Gaultier in Zukunft seinen Haute Couture Kollektionen widmet, um seinem Stil- und seinem Qualitätsempfinden nachzukommen und sich weiterhin auf Parfums (die immer noch irrsinnig erfolgreich sind) konzentriert, ist das aber auch ein bisschen wie eine kleine Ohrfeige an das Fashion System. Gaultier hat meine Generation beeinflusst wie kaum ein anderer Pariser Createur und wer hat nicht ein Matrosenshirt im Schrank, seinen Smoking getragen, bei dem man die Arme abnehmen konnte oder wer begehrte nicht seine v-förmigen Jackets mit Horn- oder Aluminiumknöpfen, die perfekt Jean Genets Vorstellungen von Querelle entsprochen haben? Von der Ästhetik der Künstler Pierre & Gilles sind seine Matrosen ebenfalls tief geprägt.
Gaultiers Kollektion für Frühjahr-Sommer 2015 wurde als Miss Gaultier Wahl im Grand Rex, einem weltberühmten Varieté, in Paris inszeniert und man war sofort an den Film „Le Prix de Beauté“ erinnert. Neben für Gaultier typischen Kleidungsstücken, die seine großen Erfolge nicht nur fortsetzten, sondern auch zitierten, gab es viele Hommagen an seine zahlreichen Gäste zu sehen, die es sich nicht nehmen ließen, zum letzten der legendären Gaultier Happenings zu kommen. Die Looks und Frisuren von Grace Coddington und Suzy Menkes kamen genau so vor, wie die Frisur der Deneuve. Humor und Spaß und am Ende der wie immer gut gelaunte Gaultier mit der Sieger-Schärpe …
Es ist zwar kein Abschied von Jean Paul Gaultier aber trotzdem ein Verlust für eine Generation von Menschen, die tief von seinem Stil geprägt wurden und sicherlich noch das ein oder andere Teil von ihm im Schrank haben. Jean Paul Gaultier hat die Achtziger und Neunziger Jahre tief beeinflusst und sein Werdegang ist mehr als bemerkenswert, denn er hat das einstmals starre Korsett des Chambre Syndicale des Prêt-à-porter mit seinem Erscheinen komplett durcheinander gewirbelt. Diese altehrwürdige Institution wollte den jungen Gaultier nämlich gar nicht aufnehmen, weil sie ihn so schockierend fand. Sicherlich etwas, was keiner mehr nach dieser Karriere hören möchte …
Jean Paul Gaultier stammt aus der Banlieue (aus Arcueil in der Pariser Region) und begann im Kosmetikstudio seiner Großmutter, das weibliche Aussehen zu studieren – und seinen Teddy zu bleichen. Daher auch der gebleichte Bürstenhaarschnitt in den Achtziger Jahren, in denen er auch unter allgemeiner Aufregung seine Verrücktheiten und Fantasmen in der Mode realisierte. Als Liebling der Moderedakteurinnen aus der ganzen Welt hat er einen Stil geschaffen – einen Stil, der keiner ist. Dabei hat er sein Handwerk bei großen Couturiers gelernt: Pierre Cardin, Jacques Esterel, Jean Patou – Ateliers, die er verließ, um „Gaultier“ zu werden. Jean-Jacques Picart unterstützte ihn dabei.
Vom Badeanzug bis zum Pelz entwarf er einige anonyme Kollektionen, gestaltete Schmuck, der Blinksignale aussendete und unterzeichnete Verträge mit Kashiyama in Tokio und Gibo in Florenz, die auch seine Prêt-à-porter Kollektionen fertigten. Von Vorführung zu Vorführung hinterließ er einen immer stärkeren Eindruck und wurde zum ironischen Gewissen der Mode.
Denn das Talent Jean Paul Gaultiers liegt darin, dass er seine Fantasie immer mit Humor verkleidet. Er erfand eine einarmige Jacke, um die Schulter besser bloss zu legen; er verlängert eine Korsage zum Kleid; er setzt zwei Hörner aus Satin auf die provozierende Brustpartie eines eng anliegenden Kleides …
Gaultier zögert nicht, alles miteinander zu vermischen (Schottenkaro und Batik, afrikanische Boubous und Spitzen, Dekorationsstoffe und Technomaterialien). Er verstieß gegen alle Gewohnheiten und brachte jede vorgefertigte Meinung ins Schwanken. So war er der erste Designer, der Männer in Rock und Sarong auf den Laufsteg schickte und selbst im Élysée-Palast beim Empfang des Präsidenten einen Rock trug.
Für ihn sind Frauen und Männer in jenes Laboratorium der Kreativität gelangt, in dem mit extremsten Modetendenzen gespielt wurde. Erfolgreich und exzessiv experimentierte Jean Paul über Jahrzehnte damit, um die bizarrste Seite zu enthüllen und zog sich selbst ins Lächerliche, wenn er sich über pittoreske Einflüsse mokiert, die in den Kollektionen der letzten Jahre zu finden waren.
Wenn er aber die Klischees des Klassischen nacheinander entlarvt, trägt er zugleich auch neue Visionen vor, aus denen eine neue Garderobe entstand, die uns heute vollkommen vertraut vorkommt. Überraschende Drapierungen bei provokanten Modellen oder scheinbare Unordnung in hochgeschlossenen Silhouetten, fransige Borten, die einen Busen verhüllen, rätselhaft verschnürte Bänder und undefinierbare Falten – das ist Gaultier, dessen Erfindungen kopiert werden, sobald sie abgemildert wurden. Manchmal allerdings wurden sie gleich so übernommen, denn seine Persiflagen ließen niemals vergessen, dass er eines der größten Talente und ein hervorragender Modefachmann ist, dessen raffinierte Schnitttechniken höchstes Niveau haben. Das Gewicht der Tradition, der Schock der Zukunft – das ist immer seine Lust am Paradoxen gewesen.
Unvergessen auch die Boutique in der Rue Vivienne, in der neuen Galerie der Bibliothèque Nationale, die damals eine ganze Generation von Einzelhändlern und Ladenbauern nach Paris pilgern ließ. Man könnte ihn auch als Erfinder der Modenschauen sehen, die wie die heutigen Happenings bei Chanel oder Dior Massenstürme auf die Karten ausbrechen ließen und glamouröse Events waren. Unvergessen im Cirque d’hiver seine legendären Defilees mit Einladungen, die heute in Modemuseen verwahrt werden.
Wir freuen uns natürlich auf Haute Couture Kollektionen, die bei Gaultier sowieso schon sehr ausgefeilt sind und jetzt von ihm mit mehr Ruhe sicherlich perfekter ausfallen, aber ohne sein Prêt-à-porter fehlt eine wichtige Facette der französischen Mode, denn das, was Gaultier ausmacht, hat immer sehr viel mit Frankreich und Paris zu tun. Vielleicht macht er ja doch noch den ein oder anderen bretonischen Streifenpulli, mit dem er so berühmt wurde …
Merci! Und Miss you Jean Paul Gaultier!
Anne
6. Oktober 2014 at 10:20Oh Peter, wie schön etwas über Gaultier zu lesen :-))) Für mich war Gaultier in den Neunzigern ein Meister.
Siegmar
6. Oktober 2014 at 11:02Peter ein sehr warmherziger, gelungener Artikel über Gaultier der mir den Start in Montag versüßt hat.
blomquist
6. Oktober 2014 at 11:34<3
Elke
6. Oktober 2014 at 17:47Schade,er ist so vielseitig ,fantasievoll und mit soviel Humor dabei!
Dein Artikel ist wieder großartig.Schön zu lesen?
Sybille
7. Oktober 2014 at 17:25Ach, ich finde es auch schade. Ein wunderbarer Artikel. Danke Peter!
Monsieur_Didier
8. Oktober 2014 at 10:11…ich mag ihn so sehr, er ist einer der ganz ganz großen…
und ich kann seine Überlegung und Entscheidung sehr nachvollziehen…
hab‘ mir am Sonntag noch mal die Folge angesehen, die bei Arte im Rahmen der Arte Fashion Week lief und war wieder sehr angetan und begeistert von ihm und seinem Humor und seiner Sichtweise…
wie schön, dass er wenigstens der Haute Couture erhalten bleibt und sich jetzt noch ausgiebiger und mit noch mehr Möglichkeiten diesen Kunstwerken widmen kann…
ich bin mir sicher dass Wir da noch viel Aussergewöhnliches zu sehen bekommen…!
…thank you, Jean Paul…
and welcome to new adventures…!
Shout-Outs: Blick in die Bloglandschaft | Fashion Insider Magazin
10. Oktober 2014 at 18:10[…] „Horstson“ dreht sich dieser Beitrag um den Abschied von Jean Paul Gaultier aus dem Prêt-à-porter-Geschäft: Seine letzte Show und […]