(Michael Jackson, „Dangerous“-Tour in Monza, Italien, 06. Juli 1994; Bild: Daniele Dalledonne, CC BY-SA 2.0)
Oh my Lord, in Anbetracht der Causa Jackson waren die letzten Wochen ein ziemlicher Paukenschlag: Laut – hinsichtlich der Berichterstattung, unschön und allzu verstörend aufgrund der Anschuldigungen. Nicht zuletzt war die hysterische Informationsflut ein Spiegel dessen, wie sich gesellschaftliche Entwicklungen aktuell „neu“ formieren. Da wurde, bevorzugt in den Sozialen (Aufschrei-)Medien, aufs Schrillste angeklagt, gemutmaßt und Hebel in Bewegung gesetzt. Mit dem Finger wurde auf Ausstellungshäuser gezeigt, die Formate über den einstigen King of Pop planen und zeigen werden. Radiosender haben Songs aus dem Programm genommen und Paparazzis belagerten die Kinder Jacksons 24/7 vor ihren Häusern. Eine Welle der Entrüstung schlug durch die Presse, landete sogar bei meiner provinzverorteten Verwandtschaft als Titelstory auf der Tageszeitung. Schuld hieran sind a) der 2009 verstorbene Michael Jackson selbst, der jahrzehntelang kleine Kinder um sich gereiht hat (bzw. diese mit zunehmender Wahrscheinlichkeit aufs Perfideste missbraucht hat) und b) die darüber entstandene Dokumentation „Leaving Neverland“, welche in den USA mit Rekordquoten auf HBO gelaufen ist und bald auf Pro7 ausgestrahlt wird. Gefühlt jeder spricht und diskutiert über das – zurecht sehr heikle und höchst sensible – Thema und hat schnell eine eigene Meinung parat.
Ja, Jackson ist schuldig und hat im Laufe seiner Karriere mehrere Kinder mithilfe seiner enormen Prominenz gefügig gemacht. Er habe sie auf emotionaler wie sexueller Ebene missbraucht, so die einen. Dann gibt es diejenigen, die solche Anschuldigungen partout nicht erkennen oder wahrhaben wollen – die Beweislage scheint jedoch immer erdrückender für alle Moonwalk-Nostalgiker. Zu guter Letzt gibt es die Verfechter von: „Ist und bleibt ein Künstler, der halt nicht auf allen Ebenen vorbildlich daherkam“. Da schwingt dann oft im Nebensatz mit, dass man heute halt kaum mehr Taten dieser Art beweisen könnte. Mindestens genauso schnell wird dann laut, dass sich interviewte Opfer primär die Taschen voll Geld stopfen wollen. Dass sich eben diese bereichern wollen und das enorme Medienecho für ihre Zwecke instrumentalisieren würden. Ich gebe offen zu: Ich weiß nicht, was man glauben soll. Was jetzt wahr oder unwahr ist. Wer Michael Jackson wirklich war. Was die Protagonisten von „Leaving Neverland“ damals wirklich durchgemacht haben und vor allem welche Rolle deren Erziehungsberechtigte dabei gespielt haben. Ich habe nur Schnipsel der Doku gesehen, kann mich also nicht wirklich aus dem Fenster lehnen oder vorschnell Position beziehen. Fest steht, dass einem bei dieser Art von Anschuldigungen enorm übel wird.
Was ich in besagten Interview-Ausschnitten der Dokumentation nämlich, neben Jacksons vermuteten Verhalten, äußerst fragwürdig empfand, waren Antworten der betroffenen Eltern. Da war mitunter die Rede davon, dass ein kleiner Junge – wir reden hier nicht von Teenagern oder heranwachsenden Erwachsenen, sondern von Kindern um die 10-12 Jahre – mit seinen Eltern auf Konzerttour bei Jackson mitreiste und in der Suite des verstorbenen Künstler nächtigte. Während seine Eltern gefühlte drei Flure weiter in einem anderen Zimmer untergebracht wurden. What? Seriously! Das ist, um es mal meiner Meinung nach angemessen zu benennen, kein fucking joke! Da habe ich ehrlich gesagt nur den Kopf schütteln können! Das ist die eine Seite, mit der ich die letzten Tage gerungen habe und klar, da wird man schnell fassungslos und traurig. Dann bereitet mir jedoch Sorgen, und das ist die andere Seite der Geschichte, dass so abstrus unreflektiert Konsequenzen gezogen werden. Plötzlich werden alle hektisch, Ausstellungen infrage gestellt, Songs verbannt und lobende Worte revidiert. Woran liegt das? Sind das die Auswirkungen unserer neuen, unaufhaltsam schnellen Distributionskanäle, wie z.B. Twitter, Facebook oder Instagram? Wie lässt sich erklären, dass eine solche Hysterie verbreitet und gerechtfertigt wird? Die Anschuldigungen, und das muss man an dieser Stelle ganz klar festhalten, stehen seit so, so vielen Jahren im Raum. Dass Michael Jackson im Verdacht steht, Kinder missbraucht zu haben, war zumindest für mich keine Neuigkeit (und ich nehme an, dass ich nicht auf dem Mond lebe).
Trotzdem, und das finde ich das Befremdliche an der Situation, ist man noch vor ein paar Jahren brav zum nächsten Michael-Jackson-Konzert getingelt und hat beim Justin Timberlake Posthum-Duett lauthals mitgeträllert. Oder täusche ich mich? Wurde zu dieser Zeit das Radio ausgeschaltet, alsbald der Song lief? Stille? Wurden alte Songs vernichtet, aus dem musikalischen Pop-Erbe entfernt? Ja, um es so naseweis zu fragen: Wurde Jacksons Gesamtwerk infrage gestellt, am Oeuvre gekratzt? Nein! Auf jeden Fall nicht in dem Maße wie es heute in diesem Moment im Turboschnellgang der Fall ist! Ich nehme an – und das ist nur eine Vermutung meinerseits – dass, wenn man heute auf einer Party einer seiner großen Hits auflegt, die Tanzfläche plötzlich um einiges leerer würde. Vertue ich mich jetzt mit dieser Mutmaßung? Zuletzt hatte ich gelesen, dass Virgil Abloh und seine damit verbundene Superpower Louis Vuitton fortan auf das Verkaufen von Michael Jackson-nahen Produkten verzichten werden. Mit Tamtam und großem Echo wurde ein Statement Ablohs beim WWD veröffentlicht: „I am aware that in light of this documentary the show has caused emotional reactions. I strictly condemn any form of child abuse, violence or infringement against any human rights. My intention for this show was to refer to Michael Jackson as a pop culture artist. It referred only to his public life that we all know and to his legacy that has influenced a whole generation of artists and designers.“ (Den vollständigen und definitiv lesenswerten Artikel gibt es hier zum Nachlesen).
Bis dato hatte ich fast vergessen, dass der Designer in seiner letzten Louis Vuitton Männerkollektion (Fall 2019) jede Menge Jackson-Zitate eingebunden hatte: Von Prints des Künstlers bis hin zu einem Set, das vom ikonischen „Billie Jean“-Musikvideo inspiriert war, war in Paris alles dabei. Das ist natürlich jetzt, in Anbetracht der schrecklichen Anschuldigungen, zu 100% heikel in der Vermarktung. Im Nachhinein ist es natürlich wenig hilfreich für einen, auf Außenwahrnehmung stark angewiesenen Modegiganten wie Louis Vuitton. Aber, und da muss ich Abloh auch ganz klar in Schutz nehmen: Als Inspiration diente ja keinesfalls das Monster, welches auf seiner Ranch angeblich Missbrauch schier unglaublichen Ausmaßes betrieb, sondern das Pop-Phänomen Michael Jackson. Die Kunstfigur, in vielerlei Hinsicht Genie und Vorbild. Der Posterheld unzähliger Jugendzimmer und personenbezogener Anker von Erinnerungen. Die Dokumentation „Leaving Neverland“ wurde erst im Anschluss an Ablohs Kollektion der Öffentlichkeit vorgestellt, man kann und darf also keinesfalls falsche Unterstellungen in den Raum werfen. Aber: Wie geht man jetzt damit um? Das ist die entscheidende Frage!
Im Fall Louis Vuitton wurde sehr deutlich gemacht, dass keinesfalls Jackson-inspirierte Teile der Kollektion produziert würden – soviel steht schon einmal fest. Wie sieht es sonst aus, werden Songs fortan nicht mehr gespielt? Verboten? Wozu führt das? Wie gehen wir mit solchen Situationen um? Ich bin ratlos! Was zeigen uns Fälle wie Bruce Weber, dessen Ausstellung in den Deichtorhallen bspw. verhältnismäßig klanglos auf unbefristete Zeit verschoben wurde? Mario Testino, der vor nicht allzu langer Zeit von allen – einschließlich dem Britischen Königshaus und Anna Wintour herself – als gottgleicher Fotograf behandelt wurde und nun kaum mehr auftritt? Aus einem anderen Blickwinkel: Was zeigen einem Fälle wie Lars von Trier, der bei den Filmfestspielen von Cannes vor einem Weltpublikum besorgniserregend nazi-nah schwadronieren darf und trotzdem weiterhin Filme vorstellt, die überall diskutiert und gefeiert werden? Stichwort Polanski oder Allen? Auf der anderen Seite wird doch allen Ernstes darüber diskutiert, ob museale Institutionen wie die Schweizerische Fondation Beyeler noch Werke von dem Künstlern Balthus zeigen dürfe, weil eben dieser vor wirklich sehr langer Zeit blutjunge Mädchen für ihre Vorteile ausgenutzt haben soll.
Wo führt diese Form der künstlerischen Zensur hin, das ist die Frage. Werden hierdurch Diskussionen angeregt, die länger nachhallen als die hysterischen Versuche des Aufschreis in den Sozialen Medien? Oder sollte man doch stillschweigend alles wegschaffen bzw. auslöschen? Dann wäre die Liste doch irrsinnig lang: wo fängt man an, und wo hört man auf? Ich schließe diesen Artikel durch und durch fragend bzw. nachdenklich ab und würde mich deshalb umso mehr über Eure Rückmeldung freuen: Was sind eure Gedanken zur Causa Jackson, aber auch zu dem Umgang mit dem Thema im Jahr 2019?
Monsieur Didier
18. März 2019 at 20:10Hallo Julian…
toller Artikel, der sehr lang und mit vielen Details gespickt ist…
ich muss da erstmal in Ruhe drüber nachdenken…
aber soviel vorab: es war in den 90ern schon ziemlich klar, was da lief, aber Jackson war ne Cashcow und deswegen habe alle wunderbar davon profitiert… und ich habe mich immer schon gefragt, wie die Eltern das mit sich ausmachen konnten… ach ja, Jackson war ja die Cashcow, durch den man so viele Vorteile hatte und man hat sich die Taschen vollgemacht und alle Vorteile wie First Class Flüge und große Suiten etc…
und hat sein Kind unbeaufsichtig gelassen bzw. Jackson anvertraut…
und jetzt können alle, die vorher von seinem Ruhm, seiner Prominenz und seinen Möglichkeiten profitierten nicht schnell genug ihre Sympathie zurückziehen und sich distanzieren…
was die Sache an sich nicht entschuldigt und relativiert…
ich finde es traurig, tragisch, ekelhaft und in den Details, die nun ans Licht gezerrt werden, sehr verstörend…
es gab vor ein paar Jahren schon mal eine Doku, da lebte Jackson glaub ich noch…
da hat kaum einer drauf reagiert und es hieß immer, im Zweifel für „den Angeklagten“ was auch absolut korrekt ist…
aber schon damals wollte kaum einer Konsequenzen daraus ziehen, ging es doch noch um eine letzte Welttourne, an der so viele wunderbar verdient hätten, wenn Jackson nicht tragischerweise vorher gestorben wäre…
ich will mich in keinster Weise zum Moralapostel aufspielen, aber ich frage mich die ganze Zeit, wie die Eltern das machen konnten… mir fällt gerade der Begriff Prostitution ein, wenn man ein menschliches Lebewesen, egal welchen Alters an jemand vermittelt oder zuführt und dafür Geld und Sachdienstleistungen erhält…
ich wäre gerne bei den Gesprächen gewesen, als die Jungs ihre Eltern gefragt haben, warum sie nichts dagegen unternommen haben…
das nur mal „so am Rande…“
Julian: lange Rede, kurzer Sinn: toller Artikel und sehr schön, dass Du wieder schreibst…!!!
Manfred
18. März 2019 at 20:42Schöner Beitrag. Ich frage mich, warum gerade jetzt alle empört sind und zum MJ-Boycott aufrufen und nicht schon vor 20 Jahren. Neue Erkenntnisse brachte die Doku zumindest für mich nicht.
JayKay
19. März 2019 at 09:41Danke für die Anregung. Ich bin auch zwiegespalten und drücke mich selbst davor darüber nachzudenken. Weil ich nämlich gerne mal ein Lied von Michael Jackson höre. Oder auch sehr gern Filme von Woody Allen etc. schaue.
@Monsieur Didier
Ich stimme hier zu.
Wie kann es erst zu solchen Übergriffen kommen?
Minderjährige Menschen, vor allem Kinder stehen unter dem Schutz ihrer Eltern. – Vom Modelcasting bis hin zu einer Übernachtung zusammen mit Michael Jackson – Wie kann es sein, dass Eltern in solchen Situationen ihre Schützlinge nur eine Sekunde aus den Augen lassen? Das ist fahrlässig. Viele Eltern treiben ihre Kinder, in der Hoffnung irgendwann selbst dadurch profitieren zu können, ins Show-, Model-, Musik-, Film- Geschäft.
Die Eltern sind nicht schuld, aber auch nicht unschuldig.
Wie man mit der gesamten Situation umgehen soll, ob man die Werke verbannen, oder trotzdem konsumieren soll, ist und bleibt für mich noch fraglich.
Julian
19. März 2019 at 13:03Hey ihr Lieben,
Vielen Dank für das Feedback / eure Gedanken zu dem Thema! Ich bin irgendwo doch erleichtert, dass ihr die selben Ansätze teilt und bei der Sache weder a) noch b) noch irgendwas anderes die richtige Reaktion darstellt.
Ich wünsche euch einen schönen Tag und bis ganz bald mal wieder, Julian
fred
19. März 2019 at 20:57Ich finde die Diskussion Quatsch. Da wird jetzt noch mal richtig Geld gemacht. Wenn ein Lied gut ist, dann ist es gut. Das Lied nicht mehr zu hören, weil irgendwann mal irgendwas war, von dem niemand weiss, ob es stimmt, das finde ich lächerlich. Von den meisten Dingen, die irgendwo passieren, wissen wir nichts. Heisst das daher, dass wir das meiste nicht mehr tun dürfen, weil es sein könnte, dass damit irgendwas war? Und wenn wir es tun und nicht wissen, dass was war und dann aber erfahren, dass was war, dürfen wir es dann nicht mehr tun? Nun, wir wussten alle, dass MJ irgendwas mit sehr jungen Menschen hatte. Wir wissen nicht genau was. Ich kannte ihn nicht persönlich und ich gehe, für meinen Teil davon aus, dass er einfach gerne mit sehr jungen Menschen zusammen war, weil er sich da gut gefühlt hat. Es ist nicht mein Umgang, aber ich sehe es nicht als verwerflich an. Von mir aus kann einer 100 Kinder um sich haben, solange er weiss, wo er seine Hände lässt oder das Kind auch sonst keinen Schaden nimmt. Greift er dem Kind ans Schnulli, so sieht die Sache schon anders aus. Dann hört der Spass auf. Ob es aber ans Schnulli ging, das wissen wir nicht so genau. Mir kam es damals schon seltsam vor, dass Eltern ihre Kinder bei ihm schlafen lassen. Warum macht man das? Hätten sie ihre Kinder auch bei dem Mann vom Supermarkt schlafen lassen? Wohl eher nicht. Wie oben auch angesprochen, gab es hier sicher auf finanzielle Interessen. Meiner damaligen und auch jetzigen Meinung nach, haben die Eltern, die Kinder verkauft. Falls also jetzt einer heult, dass ihm MJ ans Schnulli gepackt hat, sollte er auch sagen, dass MJ ihm ans Schnulli packen konnte, weil seine Eltern ihn verkauft haben. Und ein Kind zu verkaufen ist aus meinen Augen nicht weniger schlimm. Ich denke, so eine Doku spült auch wieder Geld in die Kassen der Leute und da ist dann vielleicht in der Erinnerung auch mal eine Hand da gewesen, wo sie vielleicht nicht war. Ich will hier nichts verharmlosen und bin mir sicher, dass es diese Dinge leider sehr oft gibt. Auf der anderen Seite sollte man aber sehr genau abwägen, bevor man über einen Menschen urteilt und nicht vorschnell sein. Es gibt also keinen Grund aus meiner Sicht MJ nicht zu hören. Ausserdem ein MJ Song wurde nicht nur von ihm gemacht. Da steht eine ganze Armee an Leuten dahinter, die auch zu dem Song gehören und ihn erfolgreich gemacht haben. Stehen diese Leute dann in Sippenhaft? Das wäre nicht gerecht. Das heisst, einer macht einen Fehler und alle anderen werden dafür auch verurteilt? Was ist das für eine Welt? Und darf man dann im Umkehrschluss noch etwas hören von Leuten, die mal mit MJ gearbeitet haben? Und dürfen wir LV kaufen oder anschauen? Sie haben immerhin mit dem Handschuh gearbeitet dieses Jahr? Und wenn wir LV nicht mehr anschauen dürfen, weil sie auf MJ verweisen und in der Mode arbeiten, dürfen wir dann noch andere Modehäuser anschauen, weil sie ja im gleichen Feld arbeiten, wie LV, die sich auf MJ beziehen? Das heisst, weil MJ vielleicht etwas gemacht hat, darf ich kein Gucci mehr kaufen? Wie weit geht die Kette? Ich denke, wer die letzten 20 Jahre MJ gehört hat, der kann es auch weiterhin machen, wir müssen jetzt nicht alle Lana del Rey hören.
vk
19. März 2019 at 21:34moralische verfehlungen oder kriminelle seitenschritte muessen kunstgenuss nicht verderben. kunst, recht und moral sind keinesfalls identisches terrain. muessig hier mit gleichem mass zu messen. muessig das eine ueber anderes zu stellen.
im gegenteil: mir persoenlich sind die plakativen tendenzen gesellschaftlich diskursiver entgrenzung zuhoechst suspekt.
fred
19. März 2019 at 22:06@VK
Du hast, wie immer, recht!
Vk
20. März 2019 at 08:37@fred
😉