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Hässliche Seite

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CC BY-SA 4.0; Foto: Ggia

Wir tun einfach mal so, als hätten wir das alles nicht geahnt, gewusst oder bereits vorhergesehen: „How Syrian refugees in Turkey are supplying Europe with fast fashion“. Schlagzeilen über Schlagzeilen werden heute durch die Social-Media-Wüste gespült – schon lange keine Erstaufnahmeheldengeschichten oder Aktionsaufrufe zur Unterstützung von Flüchtlingen mehr in Sicht. Sie scheinen sang- und klanglos verschwunden, etwas Neues muss her. Zwischendurch ein Artikel über die kranken Faschisten der Af … ich erspare mir weitere Details oder das Ausschreiben der Partei und kann nur hoffen, dass die „Keine-Kinder-Allenfalls-Frauen-Abknallen“-Parolen auch den dumpfesten (gibt es hierfür einen Superlativ?) Mitläufern die Augen öffnet.

Eigentlich wollte ich in diesem Artikel auf die perfide Entwicklung im europanahen Fast-Fashion-Takt hinweisen. Hier geht es schnell und der Markt hat sich bereits den Gegebenheiten angepasst bzw. sich die Flüchtlingsströme zu Nutzen gemacht. Das mit dem Artikelschreiben hat nur teilweise geklappt, weil ich mich bei der Recherche zu sehr über den Allgemeinzustand aufrege, als dass ich den Fokus auf das eigentliche Thema richten könnte. Ich versuche trotzdem ansatzweise die Richtung anzugeben und verweise dafür auf ein Zitat aus dem Guardian-Artikel, der seit einigen Tagen viral geht:

Bathed in fluorescent lights, the basement room in an Istanbul suburb is completely white. Between mountains of white fabric, Shukri carries clothing to and from the sewing stations and packs white jumpers in boxes. He is clenching a pair of scissors between his teeth looking every bit the seasoned worker, although he is only 12 years old. On this weekday morning most Turkish children are in school, but this Syrian boy is busy supplying the 15 sewing machines producing clothing mainly destined for the European market. Shukri, a Syrian Kurd who fled with his uncle from Qamishli in northern Syria 10 months ago, often works 60 hours a week earning 600 Turkish lira (£138) to help support his family. “I can’t go to school here because of work,” he says, “but I will go back to school when we return to Syria.” The factory’s supervisor agrees that 12 years old is very young to be working so many hours, but shrugs off responsibility. “It’s not our fault that they need to work,” he says, “the state failed to provide for them.” (Guardian, 29.01.2016)

Vielleicht oder hoffentlich kennt schon der ein oder andere den Artikel und ist dem Thema bereits begegnet. Er zeichnet die hässlichen Seiten der äußerst unschönen Situation ab, in der wir uns befinden. Das „wir“ lasse ich in diesem Zusammenhang provokant fallen, im Klaren darüber, dass ich anklagend wirke und trotzdem keine konkreten Lösungsvorschläge vorweisen kann. Ich will in meiner Funktion als Autor auf dieser Plattform jedoch aufmerksam machen, für das Thema sensibilisieren und bestenfalls eine Diskussion anregen. Die große, ganze Flüchtlingsaufnahme wird hier nicht infrage gestellt, also könnt ihr euch etwaige Hasstiraden am Führungsstil von Angela Merkel sparen. Ich stehe in dieser Hinsicht (bei vielen anderen Themen keinesfalls) ganz klar hinter ihren getroffenen politischen Entscheidungen und würde viel lieber von euch hören, welche Schritte ihr bei diesem Thema, das ganz gewiss mit der täglichen Flüchtlingsdebatte zu tun hat, einlenken würdet? Was geht euch durch den Kopf, wenn ihr z.B. das Argument des factory supervisor lest? Macht euch dieser Zustand nicht (auch) wütend?

Ich breche diesen Artikel an dieser Stelle ab, auch weil ich mich selber nicht davon freisprechen kann, dass ich beim „made in turkey“-Schildchen eigentlich immer aufatme. In der kleinkindlichen Annahme, dass es in der Fertigung doch wesentlich transparenter und eben ohne Kinder zugehen würde. Der Artikel wiederlegt meine fadenscheinigen Annahmen und regt zum Nachdenken an.

  • Martin
    2. Februar 2016 at 11:39

    Jetzt werden sie als Arbeiter eingesetzt und es ist auch wieder nicht richtig.