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Genauer hingeschaut … „Dior und Ich“

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Bild: Dior (PR)

Rückblende: Frühjahr 2012, der Belgier Raf Simons wird zum Kreativdirektor von Dior ernannt und erntet tosenden Applaus. Bravo, Freudentränen und Pfiffe für einen gewagten Schritt, denn wann kam zuletzt ein Visionär der Männermode in die Haute Couture hineingeschneit? Bestenfalls, um langfristig zu bleiben? Wann wurde der Entschluss gefasst, den stoffgewordenen Minimalisten mit ewigem Beiklang Jil, Sander oder beiden ins Traditionshaus Dior zu holen? Entwarnung – genaue Beweggründe der Verantwortlichen um CEO Sidney Toledano werden in Frédéric Tschengs „Dior und Ich“ nicht analysiert, dafür jede Menge Modemomente ins Visier genommen. Soviel sei versprochen: Es wird historisch, nicht nur alteingesessene Couture-Liebhaber werden in den Bann gezogen.
Denn „Dior und Ich“ wäre niemals ohne ihn entstanden, den Herrn des Hauses. Demjenigen, der die belgisch-französische Symbiose von 2012 erst möglich gemacht hat: Christian Dior. Hinter diesem Punkt bedarf es einer langen Pause, einem Kaffeenachschenken oder aber einer Zigarette – womit wir doch wieder bei Simons angelangt wären, dem hektischen Neu-Chefcouturier, der während der Dreharbeiten immer und immer wieder zum Glimmstängel greift. Pause beendet, Simons muss vorerst warten.
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Bild: Dior (PR)

Rückblende die Zweite: Dior, 1905 in der Normandie geboren, erschafft im Laufe seines Lebens eine unvergleichbare Welt der Mode. 1947, der sagenumwobene Einstand der „New Look“-Kollektion, eine Sensation für das kriegs- und krisengeschüttelte Frankreich. Der Look? Mutig, visionär und unkonventionell! Schmale Taillen, korsettgestützt Oberteile und schwingende Röcke. Sie befreien die adrette Gesellschaft von den Zwängen vergangener Kriegserfahrungen, versprühen weltweit „elegance“ und bilden eine Hommage an die Weiblichkeit.
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Bild: Dior (PR)

Obgleich der Begriff Hype in diesem Zusammenhang beinahe ordinär klingen mag, er beschreibt treffend die damals sprühende Ekstase der Modewelt rund um Diors Entwürfe. Es werden Lobeshymnen verfasst, das Time Magazine präsentiert mit Dior den ersten Modeschöpfer auf seinem Titelblatt und Königshäuser auf der ganzen Welt setzen auf die Kreationen des talentierten Franzosen. Er selbst scheint mit dem raschen Weltruhm zu hadern – Wegbegleiter berichten von einem in sich gekehrten, introvertierten Mann, der sich immer weiter abschottet und die Öffentlichkeit meidet. 1956, ein Jahr vor seinem plötzlichen Herztod, veröffentlicht er seine Memoiren und bestätigt damit das Getuschel Außenstehender: Er reflektiert auf selbstkritische Art und Weise sein öffentliches Image und berichtet von einem siamesischen Zwilling, der „mir immer einen Schritt voraus ist, seit ich Christian Dior geworden bin. Mit ihm habe ich noch ein Hühnchen zu rupfen.“
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Bild: Dior (PR)

Diors Gedanken sind Ausgangspunkt des Kinofilms und begleiten den Betrachter durchweg bis zum Abspann: Man spürt den Geist des eigentlichen Hauptakteurs, spielerisch schafft es Frédéric Tscheng Bildaufnahmen aus der Vergangenheit in die Gegenwart miteinzubinden. Egal ob in den Ateliers des legendären Pariser Modehauses oder aus der Vogelperspektive über seinem Elternhaus in Granville (Normandie) – es gibt reichlich Momente, in denen Modeenthusiasten der Atem stocken wird.
Ähnlich muss es auch Raf Simons ergangen sein, als er erstmals Granville besucht hat. Ehrfurchtsvoll durchschreitet er die Gärten des Anwesens und zeigt sich anschließend tief beeindruckt: „Ich empfinde es als eine große Aufgabe, ein so ungeheuer gewichtiges (…) Erbe anzutreten.“ Er wird sich im gigantischen Schatten seines Vorgängers behaupten müssen – eine nicht zu unterschätzende Herausforderung.
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Bild: Dior (PR)

Raf, der ebenfalls als äußerst introvertierter Modedesigner gilt und persönliche Parallelen zu Diors Person sieht, hat seine ganz eigenen Erfahrungen mit den bestehenden Memoiren gemacht: „Ich musste das Buch aus der Hand legen – das war wirklich bizarr.“ Zu groß waren ihm die Gemeinsamkeiten, „ich beschloss, besser nicht weiterzulesen, bis die erste Kollektion abgeschlossen ist.“ Generell wird man den Eindruck nicht los, dass Raf seine Premiere bei Dior mit einer gewissen Distanz beschreitet, zumindest auf zwischenmenschlicher Ebene. Während seine rechte Hand und Mitarbeiter Pieter Mulier im Sturm die Herzen der alteingesessenen Atelier-Damen erobert, wirkt er zeitweilig undurchdringlich. Ein verspätetes Eintreffen von Entwürfen der bevorstehenden Haute Couture-Kollektion? Wer hätte es nicht schon vorher geahnt, eine Katastrophe. Raf tobt und spätestens jetzt kann auch die Atelier-Chefin ihr „Raf habe ich noch nicht richtig kennengelernt“ revidieren.
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Bild: Dior (PR)

In dieser ehrlichen Form der Darstellung, Raf tritt nicht immer als Sympathieträger auf, liegt ganz klar die Stärke des Films: Ungeschönt und authentisch fängt der Regisseur Tscheng Mode aus dem Hause Dior als Dialog ein, kein Zuckerschlecken für die Beteiligten. „Man muss wissen, was man will“, wird man die erfahrenen Atelierdamen tuscheln hören, während Raf appelliert, dass man ihm „ nichts abschlagen“ dürfe.
Gerade in seinen Entwürfen für das bevorstehende Debut wird genau dieser Bruch sichtbar: Er kombiniert Kleider als Top über Hosen, modernisiert die gewohnte Dior-Silhouette und befreit sich dennoch vom Jil Sander-Minimalismus vergangener Tage. In einer Szene wird man von „la mode de demain“ hören, ganz klar eine der wichtigsten Statements des Films – der große Auftritt ist nicht mehr lange hin.

Im Stechschritt werden Skizzen gesichtet, Konzepte bearbeitet und immer wieder verändert. Als Inspirationsquelle dienen Arbeiten des US-amerikanischen Künstlers Sterling Ruby, seine Werke werden aufgegriffen und im Stoff projiziert. Die florale Handschrift Diors? Wird durch eine gewisse Aggressivität, nennen wir es Grobheit, ergänzt! Raf wird seine Entwürfe im weiteren Verlauf mit Romeo Gigli auf Acid vergleichen, dabei lässt er jedoch niemals die nötige Essenz an Weiblichkeit außer Acht – ein Drahtseilakt. Bei den Anproben zu Schau, noch immer sind nicht alle Outfits realisiert (was vermutlich in jedem Couture-Haus der Fall ist), bekommen die Hanseaten unter uns feuchte Augen: Esther Heesch, Topmodel aus der Feder von Claudia Midolo (Peters ausführliches Portrait über Esther gibt’s hier zum Nachlesen), wird ihr Laufstegdebüt geben. Hautnah lässt sich miterleben, wie sie durch die Atelierräume schwebt und Raf samt Team begeistert. Ein sehr schöner Moment.
Atemberaubend sind auch die Räumlichkeiten der Schau, die Wände des Pariser Gebäudes werden über und über mit frischen Blumen dekoriert – eine unbeschreiblich inspirierende Atmosphäre. Derweil sitzt Raf auf der Dachterrasse und fiebert wortwörtlich seinem großen Auftritt entgegen, Unbehagen breitet sich aus. Man sieht die Furcht in den Augen des Belgiers, er scheint unglaubliche Panik vor dem wartenden Publikum zu haben.
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Bild: Dior (PR)

Tscheng als Regisseur, schafft es, genau diese Gefühle stilistisch miteinzubeziehen: Das Getöse der wartenden Fotografen und Pressevertretern hallt bis ins Dachgeschoss, eine Schlacht aus Hollywoods Blockbustern kann hiergegen einpacken. Man fühlt sich unweigerlich an Diors geschriebene Worte erinnert: „Das Öffentliche in der Mode“ verunsicherte ihn. Raf mag definitiv Recht haben, Parallelen zwischen ihm und Dior sind unverkennbar. Bis zur letzten Minute sträubt er sich gegen eine Verbeugung auf dem Laufsteg. Wägt ab, bis wohin er maximal hinausschreiten wird und bricht zwischenzeitlich in Tränen aus.
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Bild: Dior (PR)

Das eigentliche Hauptaugenmerk, die Entwürfe, rücken trotz allem nicht in den Hintergrund. Begleitend zur Filmmusik von Ha-Yang Kim und Michael Galbe kommen sie bestens zur Geltung. Der Einsatz von Slow-Motion-Aufnahmen wirkt beinahe surreal, eingesetzte Materialien und Stoffe werden in der Nahaufnahme fokussiert – ein Fest für die Augen. Ein begeistertes Raunen geht durch den Kinosaal, Bravo. Der Szenenschnitt von Julio C Perez IV? Unbedingt zu betonen! Beinahe ironisch wird in Zeitlupe durch die Frontrow gezoomt, der ungeschönte Modezirkus in der Momentaufnahme: Anna Wintour samt Tochter, Sharon Stone oder die verstorbene L`Wrenn Scott – sie alle beklatschen die gelungene Premiere Rafs und sehen dabei ungewöhnlich gewöhnlich aus. Ich schließe mich mit etwa drei Jahren Verzögerung noch einmal an und beklatsche die Kollektion mit Standing Ovations: Der gelungene Film „Dior und Ich“ wird ebenfalls bejubelt, Modekino mal ganz anders!

Ab dem 25. Juni 2015 läuft der Film deutschlandweit im Kino, ich bin gespannt, was ihr von dem Umsetzung haltet!

PS: Den markanten Soundtrack des Films höre ich im Übrigen auf Spotify rauf und runter.

  • blomquist
    23. Juni 2015 at 18:15

    Ein so toller Film und ein sehr genauer Artikel darüber!

  • Felix
    23. Juni 2015 at 22:00

    Guter Überblick, danke! Steht ganz oben auf meiner Filmliste.

  • PeterKempe
    24. Juni 2015 at 08:31

    Wahnsinnig schön geschrieben und analysiert! Das ist es, warum Mode einen so ergreift – wegen des Mythos‘ Couture. Komischerweise wirkt Raf Simons für mich immer fremd und nie euphorisch. Vielleicht träumt er lieber für sich allein! Danke Julian, Monsieur Dior wäre stolz diesen Bericht zu lesen! Merci!

  • Siegmar
    24. Juni 2015 at 11:54

    wunderbarer Artikel Julian und macht noch mehr Lust darauf den Film zu sehen, Raf Simons gehört für mich zu den wirklichen “ Modeschöpfern “ ( ich mag den Ausdruck Designer im Bezug zur Mode nicht )und ich bin immer tief beeindruckt von seiner Arbeit und die Dior hat er zu neuen Höhen geführt.