(Bild: Courtesy of Dior)
Fast symbolhaft für dieses Jahr, in dem sich die Welt in so kurzer Zeit verändert hat, fand die diesjährige Haute-Couture-Woche für den Herbst nur online statt. Wenn manch einer fragt, warum die Luxusmode nicht aussetzt und die Häuser eine Pause einlegen, dem sei gesagt, dass es nicht nur um viele Tausend Arbeitsplätze geht, sondern auch darum, dass besonders in Frankreich die Luxusindustrie, nach der Landwirtschaft und Tourismus, der bedeutendste Wirtschaftszweig ist.
In den Ateliers und den Manufakturen beherrschen Handwerker Techniken, die kontinuierlich trainiert werden müssen – auch, um sie nicht zu verlernen und ihrem Verlust vorzubeugen. Viele Betriebe sind die letzten ihrer Art, teilweise seit Generationen tätig und ihr Wegfall könnte als Kulturgut für die Zukunft nicht erhalten werden.
Haute Couture ist auch das Feld, in dem Dinge ausprobiert werden können, die dann nachher, in vereinfachter Form, in die Konfektion übersetzt werden. Vereinfacht gesagt, sind die Ateliers die Zukunftslabore des Handwerks.
Dior, ein Haus, das den „Online-Schauenkalender“ der Chambre Syndicale de la Haute Couture eröffnete, steht vielleicht exemplarisch für die gleiche Situation, in der wir uns jetzt befinden. Mehr noch: Es wurde in ähnlich bewegten und komplizierten Zeiten begründet. Als Europa nach dem Zweiten Weltkrieg in Schutt und Asche lag und die Arbeitslosigkeit Rekordzahlen aufwies, hatte der französische Stoffhersteller Marcel Boussac eine aberwitzige Idee. Er hatte das Ziel, den Stoffverbrauch anzukurbeln und für Tausende Menschen Arbeitsplätze schaffen, indem er – zusätzlich zu seinen günstigen Baumwollstoffen – eine ganz neue Art von kostbaren und aufwendigeren Geweben produzieren wollte. Die Haute Couture in Paris kam gerade erst wieder auf die Beine und die Bedeutung von Paris als Modestadt war durch die Kriegssituation in den Hintergrund getreten. Die reichen Amerikanerinnen, die extra für ihre Bestellungen nach Europa reisten, hatten sich in der Zwischenzeit den heimischen Designern wie Richard James oder Claire McCardell zugewandt.
Marcel Boussac beschloss, mit dem vorher bei Lucien Lelong tätigen Christian Dior ein Modehaus zu begründen – in einer Straße, die damals für alles andere als Mode stand. Heute ist die Avenue Montaigne von den Geschäften aller Luxusbrands gesäumt, damals war Diors erstes Haus – etwas versteckt, am Ende der Straße – noch ein hässlicher Hochbunker aus dem Zweiten Weltkrieg.
Der Rest ist Legende, Christian Dior erschuf die weltberühmten New Look, gab den Frauen die Träume, von denen sie fast ein Jahrzehnt kaum gewagt hatten, zu träumen, während sie als Straßenbahnschaffnerinnen oder in Munitionsfabriken gearbeitet hatten. So erreichte dann auch Boussac, mit einem Stoffverbrauch von bis zu 50 Meter für große Abendroben, sein Ziel.
Paris‘ Ruf als Modemetropole war binnen zweier Saisons wieder auferstanden. Christian Dior war der berühmteste Designer der Welt, weil er in unmöglichen Zeiten genau das gewagt hatte, was viele nicht wagten: Er hat Mut bewiesen und Arbeitsplätze geschaffen.
Doch auch die Nachhaltigkeit von Haute Couture ist beispielhaft: Mehr als ein Drittel aller jemals geschaffenen Haute-Couture-Kleider der letzten einhundert Jahre existieren noch. Entweder wurden sie von ihren Trägerinnen als Spenden an die Kostümsammlungen von Museen gegeben oder sie sind in Archiven verwahrt, um die Techniken der Verarbeitungen weiterzugeben. Modeausstellungen mit ihnen haben Rekord-Besucherzahlen und der Vintage Markt mit den aus zweiter oder dritter Hand stammenden Schätzen boomt in den letzten Jahren – teilweise, um die Looks zu sammeln oder um sie in der Zukunft zu tragen. Was mit ungeheurer Mühe und Geduld erschaffen wurde, ist nicht nur von guter Qualität, sondern fasziniert auch mehrere Generationen von Trägerinnen.
Bild: Courtesy of Dior
Notzeiten machen erfinderisch und setzen auch gewisse kreative Prozesse frei. So ist es in dieser Saison fast 30 Haute-Couture-Ateliers gelungen, wenn auch in wesentlich kleinerem Umfang, Kollektionen zu kreieren und mit der heutigen Technik virtuell in der Haute-Couture-Woche vorzustellen. Dabei lag die Breite weniger im Vordergrund als die Konzentration. Es gab sogar Designer, die, um ihre Botschaft zu vermitteln, sich auf ein oder zwei Modelle beschränkten. Wer das Confinement in irgendeiner Weise nutzen konnte, hat trotz widrigster Umstände versucht, so etwas wie ein Konzept auf die Beine zu stellen.
Dass man die diesjährige Haute-Couture-Woche nicht mit den großen Schauen der letzten Jahre vergleichen kann, liegt auf der Hand. Doch der tendenzielle Wandel tut manchem Modehaus gut und man kommt darauf zurück, was das Metier wirklich ausmacht. Eine Klientel, die bis zu 300.000 Euro für ein Modell ausgibt, will nun mal etwas Einzigartiges und Bleibendes. Deshalb lohnt es sich in dieser Saison besonders, etwas genauer hinzuschauen – schließlich geht es um die Kleider und nicht um eine möglichst bombastische Schau. Es ist davon auszugehen, dass diese der Vergangenheit angehören. Ein Umdenken schien in diesem Segment schon länger vonnöten, denn immer größer, mehr und umfangreicher lässt auch den stärksten Konzern irgendwann an seine Grenzen stoßen. „Back to the Roots“ drückt den wahren Charakter der Haute Couture wieder in den Vordergrund; es geht um Kleider, Menschen und, „last but not least“, Arbeitsplätze und nicht um eine Eventkultur.
Wir starten heute mit Dior und in der nächsten Zeit, werde ich noch über einige Schauen der Couture berichten. Als es noch keine virtuelle Welt gab, 1945, hatte die Pariser Couture-Kammer bereits eine Idee, die bei Dior wieder aufgenommen wurde: Die Modelle zu verkleinern und rund um die Welt zu schicken, um überall zu zeigen, was das Handwerk imstande ist zu erschaffen. Das Théâtre de la Mode – ausgedacht von Christian Bérard (der auch die erste Dior-Boutique gestaltete) – stand Pate für die von Maria Grazia Chiuri entworfene Haute-Couture-Kollektion Winter 2020. Zugleich blieb sie ihren beiden Grundinspirationen treu – dem Surrealismus und dem Feminismus. Etwas, was sie stark in den letzten Jahren lancierte und mit den Wurzeln des Gründers Christian Dior kombiniert und erneuert.
Mit der Schaffung der 37 Silhouetten wollte Maria Grazia das Werk und die Reise der fünf prägend inspirierenden Frauen Figuren des Surrealismus ehren: Lee Miller, Dora Maar, Dorothea Tanning, Leonora Carrington und Jacqueline Lamba.
Diese wagemutigen Persönlichkeiten, die alle Visionäre waren, gingen über ihre Rolle als „Muse“ hinaus, indem sie ihre Plätze als Künstler mit eigenständigem Werk und Stilistik erkämpften. Weiterhin stehen die Modelle für klassisches Dior und die Zitate, die Maria Grazia aus den Archiven und den Kollektionen der Dior Nachfolger, wie Marc Bohan oder auch John Galliano immer wieder aufnimmt und neu interpretiert.
Die bunten Patchwork-Roben von 1969, die eine Antwort auf die Hippie-Tendenzen waren, werden zu kostbaren Stickereien in monochromer Farbigkeit bei einem Kleid oder als Details abgewandelt in weiten Abendröcken aufgenommen. Ein Fin-de-Siecle-Ensemble von Diors Mutter wird in eine opulente Organza-Bluse mit ausladender Taft-Krinoline verwandelt. Drapierte an Fortuny-Delphos-Kleider erinnernde fließende Roben spannen den Bogen zu dem im virtuellen Zeitalter dazu gehörenden Film, der zum Träumen einladen sollte, und ein Nymphen-Märchen erzählt, das auch die Proportionen der verkleinerten Modelle klar werden lässt. Ein magischer Film mit dem Titel ‚Le Mythe Dior‘, der von dem italienischen Filmemacher Matteo Garrone, der unter anderem ‚Pinocchio‘ gedreht hat, eigens für Dior realisiert wurde. Eine große Leistung des Dior-Ateliers, sich der Herausforderung der Miniaturschneiderei spielerisch zu stellen, um den Geist von Monsieur Dior treu zu erhalten, denn schon im Original sind die vielen Details aufwendig zu gestalten, in der Miniaturversion ist es noch mal unendlich schwieriger.
Der Fokus der Kollektion liegt aber auf einem Bekenntnis, dass es ganz klar darum geht, einen extrem den Werten des Hauses und des Handwerks in der Stilistik gerecht zu werden. Selten spiegelte eine Kollektion so sehr die Wurzeln und den Geist des Begründers wider und die einzelnen Silhouetten aus den zehn erfolgreichen Jahren, die Dior selbst die Kollektion Saison für Saison zeichnete und die Geschichte der Nachkriegsmode maßgeblich prägte. Sie drückt auch den Stolz der fast unendlichen Möglichkeiten, die nur in diesem Metier der Mode vorhanden sind, aus. Haute Couture bedeutet Träume von Kleidern, bei denen es nicht darum geht, dass man sie sich leisten kann, sondern die Möglichkeit zu zeigen, was ein Haus imstande ist zu realisieren. Sicherlich werden wir von diesen Modellen in 50 Jahren einige in den Ausstellungen von Museen wiederfinden. Unsere Enkel werden genau wie wir denken, wie haben sie es nur gemacht, in solchen Zeiten so etwas zu realisieren.
Der Mut des Monsieur Dior scheint auch nach über 70 Jahren den Handwerkern Flügel zu verleihen. Analoges Handwerk ist auch in virtuellen Zeiten nicht zu ersetzen; die Kommunikation eröffnet zwar neue Wege, doch ein gemeinschaftliches Erleben ist viel schöner …
Hannes
14. Juli 2020 at 11:25Natürlich ist die Kollektion sehr hübsch, aber auch ziemlich dröge und nicht besonders einfallsreich. Das Ganze wirkt eher wie eine modehistorische Ausstellung, was aber nichts mit der Präsentation zu tun hat. Und den Surrealismus/Feminismus als Inspirationsquelle kann ich beim besten Willen nicht erkennen.
vk
14. Juli 2020 at 12:56traumhaft!
das funktioniert ja wirklich wunderbar.
hach, was fuehlt man sich frisch und belebt.
mode, die sich nicht anbiedert sondern erstmal entzieht.
man muss ihr schon folgen wollen in diesen merkwuerdigen traum, der nur ein spiegel ist.
applaus! applaus! applaus!
Siegmar
14. Juli 2020 at 22:43Ich finde es sehr toll
thomash
15. Juli 2020 at 19:01Fantastisch! Die “Show“, die Idee von damals, die Übertragung der Idee auf heute, der Film, die Looks, und natürlich wieder der Artikel! Schön analysiert und so geschrieben, dass man sich sofort mitgenommen fühlt. Auch wenn tatsächlich jetzt keiner weiß, wie die Welt im Herbst/Winter 2020 wirklich aussehen wird, ist das ein schöner Traum, wie es mit der Verwirklichung von Träumen weitergehen könnte. Vielen Dank dafür.
Thorsten
16. Juli 2020 at 13:22Die Kollektion sieht gut aus, wohl deshalb, weil sie komplett aus dem Archiv stammt. Surrealismus und Feminismus kann ich (zum Glück!) nicht erkennen.
Gilles
18. Juli 2020 at 23:18Tolle Kollektion, gute Beschreibung!
The Punk Princess: Chanel Haute Couture Herbst-Winter 2020/21 | Horstson
21. Juli 2020 at 09:59[…] wie Virginie Viard ihn dem heutigen Leben anpasst. Im Endeffekt, wie ich auch schon in meinem Dior-Bericht geschrieben habe, geht es besonders bei der Haute Couture um das Handwerk. Es ist die Kollektion, die am dichtesten […]