(Chanel Spring/Summer 2020 – Photo by Olivier Saillant)
Wenn ich an Paris denke, fallen mir sofort die grauen Zinkdächer ein mit den vielen Schornsteinen und Dachfenstern, die morgens, wenn ich aus dem Fenster schaue, wie ein endloses Meer vor meinem Blick liegen. Darüber der Himmel und darunter die aufwachende Stadt. Einige Dachluken sind geöffnet und man sieht jemanden, der Café kocht, sich anzieht, seine Kinder für die Schule fertig macht oder die Fenster putzt. Tausende Geschichten unter dem Meer aus Dächern, eine endlose Wiederholung und doch jede anders und voller skurriler Konstruktionen. Unter den Dächern der Rue Cambon, ganz oben, befinden sich die Ateliers von Chanel und dort wird das realisiert, was ein paar Stockwerke darunter von Virginie Viard und dem Team des Studio Chanel erdacht wird. Ob Haute Couture, Prêt-à-porter oder Métiers d‘Art Kollektionen, für alles gibt es Ateliers mit Spezialisten für den jeweiligen Bereich, die sich mittlerweile über mehrere Häuserblöcke erstrecken.
Chanel Spring/Summer 2020 – Photo by Olivier Saillant
Gegen Viertel vor acht jeden Morgen erklimmen die Direktricen und Näherinnen die Treppen und das Licht fällt über die großen Dachfenster hinein, den Himmel von Paris vor Augen und die Modelle die für die nächste Saison erschaffen werden unter den Händen. Tausende Male war auch Virginie Viard hier oben um Modelle zu begutachten oder Anweisungen und Ergänzungen für die Kollektion abzustimmen.
Eine wunderbare Inspiration: Paris von oben und das Universum von Mademoiselle Chanel unter den Füßen, alles realisiert, um im Grand Palais den Dekor für die Prêt-à-porter Kollektion Frühling Sommer 2020 am 1. Oktober zu bilden. „Sur les troits de Paris“ – über den Dächern von Paris – das Motto der Schau.
Doch noch eine weitere Inspiration bewegte die Chanel Kreativchefin in dieser Saison, denn ihre Karriere begann als Kostümdesignerin beim Film und sie liebt Filme und Musik. Die „Nouvelle Vague“, einer der kreativsten Bewegungen des französischen Kinos bildet den Bogen zwischen Chanel und der nächsten Sommersaison. Gabrielle Chanel schuf nicht nur viele Kostüme für die Filme dieser Zeit, sondern auch in der gleichen Epoche für Schauspielerinnen wie Jeanne Moreau oder auch Brigitte Bardot. Alain Resnais Film „Letztes Jahr in Marienbad“ inspirierte auch die fließenden Kleider von Virginies Looks für den nächsten Sommer in ihrer Zeitlosigkeit. Die Existenzialisten und die Pariser Mädchen aus Saint Germain kreierten einen neuen Stil, meist in schwarz und weiß und betont nachlässig gestylt. Das genau macht das aus, was wir heute noch so unglaublich spannend und pariserisch an den Frauen finden, die auch Virginie Viard vor Augen hat, wenn sie die Chanel Kollektionen entwirft.
Caroline de Maigret, Lou Douillon oder auch Muse Kirsten Stewart stehen dafür Pate. Viard orientiert sich, um die Chanel Codes neu zu interpretieren, an lässigen starken Frauen und setzt die Codes spielerisch auf die Looks um, die alltagstauglich täglich zum Kombinieren einladen. Chanel 2020 bedeutet für sie die Frauen à la Chanel der täglichen Herausforderung zu stellen, Kleidung persönlich zu interpretieren und nicht als Statussymbol zu sehen. Die Gründerin Gabrielle Chanel steht noch heute für die befreite Frau, Virginie liefert die kontinuierliche Umsetzung der Zukunft ab.
Auf den Dächern von Paris defilieren zum Soundtrack der Show von Michel Gaubert die Models in einem natürlichen Make-up, das Lucia Pica gemeinsam mit Virginie Viard speziell für die „Nouvelle Vague“ Kollektion umsetzte. Sam McKnight‘s Frisuren unterstrichen den betont alltäglichen Look.
.Chanel Spring/Summer 2020 – Photo by Olivier Saillant
Frisch und fröhlich, wie in einem frühlingshaften Wind kommt die neue Version der Chanel Jacke daher, leichte Tweeds in bunten Farben, wandeln sie zu „easy to wear“ Kleidern oder einteiligen Jumpsuits mit kurzen Shorts. Dazu Sandalen, die mit bunten Cabochons oder Strass verziert oder flach und zweifarbig sind. Die Materialien sind geschmeidig und behindern keine Bewegungen. Die Silhouette ist fließend und weich. Hier und da erscheint ein kleiner schwarzer Hut, wie er in den Filmen Godards auftaucht. Die Kollektion spielt Tag und Nacht mit der Einfachheit und Ausgewogenheit des Volumens. Jacken mit Volants an Kragen und Manschetten sowie kurzen Röcken interpretieren das Tweed Kostüm Mlle Chanels neu. Brüche wie Caprihosen und Jeansjacken mit Rüschen, bequeme oversized-geschnittene Strickjacken aus luftigem Grobstrick würzen die sommerlichen Klassiker und betonen als Lieblingsstücke die Individualität der Trägerinnen.
Chanel Spring/Summer 2020 – Photo by Olivier Saillant
Strahlende kleine weiße Mäntel, die mit Zöpfen versehen sind, werden mit voluminösen Röcken und Oberteilen aus schwarz-weißem Tweed getragen. Die gerade geschnittene maskuline Tweedjacke wird überarbeitet und in Spielanzüge, Overalls oder ein Kleidchen mit ausgestelltem Rock verwandelt. Lange Mäntel aus Tweed oder Wollcrêpe, kombiniert mit gestreiften Oberteilen oder akzentuiert durch ein nachlässig geknotetes Hemd, das maskulin feminine Akzente setzt.
Key-pieces sind die aus Satin, Seide, Faille und Taft gearbeiteten kurzen, weit glockigen oder asymmetrischen Röcke, die immer hoch in der Taille getragen werden: Häufig mit Organza wie Petticoats unterlegt, bewegen sie sich mit femininer Eleganz und verleihen mädchenhafte Attitüde. Ihr Charme wird durch gekräuselte Oberteile und zarte Faltenblusen mit Ballonärmeln, die mit kleinen Schleifen oder Blütenblättern aus Bast und Organza verziert sind, verstärkt.
In ihrer Transparenz und Leichtigkeit enthüllen die Stoffe die atemberaubende Arbeit der Ateliers, wie bei der Couture auch beim Prêt-à-porter – alles Experten auf ihrem jeweiligen Gebiet. Das von Jean-Philippe Burucoa geleitete Konfektionsatelier setzt alle Entwürfe von Virginie Viard aus dem Studio um. Was einfach wirkt, ist meist höchst kompliziert und kostbar vom Handwerk. Schichten aus bedrucktem Chiffon, Organza, Federn oder Bastfransen strukturieren die zarten Oberteile und langen Röcke. Das Thema der Kollektion wird in chanel-typischen exklusiven Drucken aufgenommen, die manchmal erst auf den zweiten Blick zu erkennen sind. Kleider aus anthrazitfarbenem Chiffon sind mit Pariser Fassaden und Dächern bedruckt und um den Kragen mit Pailletten in mattem Rot wie ein Lippenstift bestickt.
Die Kleider sind eine Hommage an die romantischen Kleider der Vorkriegszeit, die Coco Chanels erfolgreichste Periode markieren. Lange in Falten gelegte Röcke und romantische Volants an den Oberteilen stehen in reizvollem Kontrast zu den grafischen Drucken. Anschließend überraschen Röcke, Jacken und ein langes Kleid aus Seidentwill mit reizvollen die Abenddämmerung über Paris aufnehmender Farbstimmung, um das wie immer konsequente Kollektionsthema durchzuspielen. Virginie spielt mit den Codes von Chanel und ganz wie Karl Lagerfeld gibt sie den Dächern von Paris darauf die Projektionsfläche die heutige Pariserin anzuziehen.
Streifen, Karos, leuchtende Multicolour-Tweeds – Rot, Orange, Pink, Blau – dominieren die Sommer Kollektion und brillieren neben dem für das Haus symbolträchtigen Schwarz-Weiß. Die Drucke werden gewürzt mit Chanel Allover-Prints, die auf grafischen Mustern tanzen.
Chanel Spring/Summer 2020 – Photo by Olivier Saillant
Ganz wichtig die neuen Accessoires: In einer großen Version gibt es die CHANEL 19-Tasche in bedrucktem Seidentwill, während die 11.12-Tasche in fröhlichem Tweed, abgestimmt auf die Looks besteht. Reißverschlusstaschen aus Leder oder Tweed erinnern an die Federmäppchen von Schulmädchen: Die CHANEL Signatur, diesmal an den Ketten in handgeschriebener Variation und mit Leder verziert. Die Umhängetaschen sind mit Ketten, durchflochten mit zweifarbigem Ripsband, sommerlich verjüngt worden. Couture-Appeal setzen die kostbaren von Lesage bestickten Taschen: Allover mit Perlen bestickt, mit Ketten besetzt oder wertvolle Paillettenkompositionen mit Blumenmotiven lassen die Taschen zu Juwelen werden.
Typisch Gabrielle Chanels Couture-Schmuck wird üppig über die Looks geworfen: Perlen-Sautoirs und Broschen, Halsketten aus farbigem Kristall oder kleinen Strasskugeln und breite Manschettenarmbänder mit CHANEL PARIS Logos. Das Styling der Show, die schwarzen blickdichten Strumpfhosen, ein nicht zu ernst zu nehmendes Augenzwinkern in Richtung der Nouvelle Vague.
Chanels Codes dechiffriert und vom Totallook befreit, so wie sie im Alltag 2020 von Frauen getragen werden, die Chanels Zeitlosigkeit schätzen, aber Kleidung mit eigenen Augen sehen, genau das in einer Selbstverständlichkeit interpretieren, ohne prätentiös zu wirken – bringt das Credo Virginie Viards auf den Punkt. Über den Dächern von Paris und auf den Straßen der Welt ebenso.
Elke Kempe
25. Oktober 2019 at 09:10Das hast Du für uns so gut beobachtet ,und für Deine Leser so gut erzählt,danke,mein Schatz!
JayKay
25. Oktober 2019 at 10:54Danke für den schönen Artikel.
Manfred
25. Oktober 2019 at 18:40Wirklich ein schöner Beitrag zu einer fulminanten Schau!
Gerd
26. Oktober 2019 at 20:01Beides fantastisch: Chanels Show (welch Idee) und Peters Rezension
(welch liebenswerte Worte)
Große Kunst.
Horst
10. November 2019 at 14:36Danke für die schöne Rezension!