(Chanel Haute Couture Fall/Winter; Dekor; Foto: Olivier Saillant)
Wenn Karl Lagerfeld während der Couture-Woche seine Herbst/Winter-Kollektion für das Haus Chanel zeigt, ist es ein wenig so, als wenn die sonst im rasanten Tempo agierende Modebranche kurz innehält und sich auf das besinnt, was den Kern dessen ausmacht, was man als „Haute Couture“ bzw. „die Wurzeln der Mode“ betiteln könnte.
Chanel Haute Couture Fall/Winter 2017; Dekor; Foto: Olivier Saillant
Als die Besucher am 04. Juli das Grand Palais betraten, erwartete sie eine Kulisse, die wenige Hundert Meter entfernt real existiert – das Champ du Mars mit der Pariser Sehenswürdigkeit überhaupt, dem Eiffelturm. Keine Stadt fasziniert weltweit so wie Paris und der Eiffelturm lädt ein zum Träumen und Nachdenken, wenn man auf einem der zahlreichen grünen Stühle im Park davor sitzt. Karl Lagerfeld liebt Paris und, seitdem er mit nicht einmal sechzehn Jahren dorthin kam, inspiriert ihn die Stadt zu immer wieder neuen Kreationen.
Dass diese Stadt wie keine andere für Haute Couture steht, macht das Bild rund. Seit 1918 fertigen die Chanel-Ateliers zwei Mal im Jahr die Kreationen, die rein in Handarbeit hergestellt wird. Auf die Idee der Haute Couture kam Gabrielle Chanel 1915 während des Ersten Weltkrieges. In Biarritz waren viele Pariserinnen evakuiert und so beschloss Chanel, zusätzlich zu ihren Hüten, die sie bis dahin angefertigt hatte, den Frauen ihre Garderobe auf den Leib zu schneidern.
Chanel Haute Couture Fall/Winter 2017; Foto: Chanel
Karl Lagerfeld, der nach der Schau für seine Verdienste von Anne Hidalgo, der Pariser Bürgermeisterin, geehrt wurde, dieses ureigene Pariser Handwerk in die Welt hinausgetragen zu haben und dadurch die Stadt und das Renommee der Mode noch bekannter und begehrlicher gemacht hat, bekam die Médaille Grand Vermeil. Die höchste Auszeichnung, die Paris vergibt. Längst, obwohl er aus Norddeutschland stammt, ist Lagerfeld zu dem Synonym für Haute Couture und Prêt-à-porter geworden und steht mit seiner Kreativdirektion an der Spitze von Chanel als Symbol für die französische Mode wie keine andere Person. Chanel bildet die absolute Spitze der Pyramide der Luxusmarken und ist die erfolgreichste ihrer Art. Obwohl das Label ausschließlich auf Damenkollektionen spezialisiert ist, ist es mit seinen Haute-Couture-, Prêt-à-porter-, Accessoires- und Kosmetikkollektionen so erfolgreich, dass es selbst die großen Multikonzerne in den Schatten stellt und, wenn man vom Kosmetik-Department absieht, auf E-Commerce-Aktivitäten verzichtet. Man sieht halt gern seine Kunden und der Service und das Prozedere um die Marke Chanel erscheint den Inhabern wichtiger als boomendes Business, das automatisch auch zum Kontrollverlust über den Mythos und die Qualität einer perfekten Chanel-Welt führt.
Chanel Haute Couture Fall/Winter 2017; Foto: Chanel
Die Haute Couture spielt dabei eine der wichtigsten Rollen, denn im Gegensatz zu anderen Häusern stellt sie nicht nur das Aushängeschild und die Wurzeln des Hauses da und wird modern ausgedrückt als Marketingtool benutzt. Vielmehr steht sie als „Labor“ für sämtliche kreative Aktivitäten und trägt maßgeblich zum wirtschaftlichen Erfolg Chanels bei. Haute Couture ist eine rein pariserische Eigenschaft, die aber auch den Zweck erfüllt, dass die alten Techniken in die Zukunft getragen werden. So verkündet Lagerfeld stolz, dass in den Ateliers aber auch in den Paraffections Ateliers, wie dem Sticker Lesage, der Feder- und Blumenmanufaktur Lemarié oder in der Maison Michel für Hüte, nur junge Leute arbeiten. Der Nachwuchs ist also gesichert Das ist nicht unwichtig in Frankreich, denn die Luxusindustrie stellt einen der wichtigsten Wirtschaften Frankreichs da, vom Image des Landes und Magneteffekt für den Tourismus ganz zu schweigen.
Chanel Haute Couture Fall/Winter 2017; Fotos: Chanel
Was dann im Defilee für den kommenden Winter zum Soundtrack von DJ Michel Gaubert folgte, war nicht nur Balsam für die Augen, sondern auch eine Sternstunde der Perfektion und der Mode an sich. Beginnend beim Dekor, das das Team um Stefan Lubrina nach den Visionen von Lagerfeld in monatelanger Kleinarbeit perfekt realisiert. Der 38 Meter hohe Eiffelturm ist natürlich nicht so groß wie sein Bruder – das würde nicht unter die Kuppel des Grand Palais passen – und so hüllt man die Spitze in weiße Wolken, so wie er sich oft morgens an dunstigen Herbsttagen in Paris zeigt. Spinnt man diese Idee weiter, zeigen die Flaneure auf dem umliegenden Champ du Mars die ersten Looks die Schau.
Chanel Haute Couture Fall/Winter 2017; Fotos: Chanel
Ein Freund und Kollege von mir, der sich seit Jahrzehnten mit Mode beschäftigt, bringt diese Quintessenz von Karl Lagerfeld und Chanel in einem Zitat auf den Punkt, das wunderbar in unsere politisch äußerst unsichere Welt und Lage passt: „Wenn man sich die Chanel Haute Couture von Lagerfeld anschaut, ist es, als würde man im grauen Krieg eine Rose am Wegesrand stehen sehen, die voller Schönheit ist.“
Und genau das trifft die Kollektion perfekt. Sie ist total Chanel, total Karl Lagerfeld und zelebriert mit Fantasie und Inbrunst die „Petit Mains“ – das Handwerk der Ateliers und den Kern, der Tausend raffinierten Arbeitsschritte und unendlichen Stickereien und Materialien der Haute Couture.
Chanel Haute Couture Fall/Winter 2017; Fotos: Chanel
Die Silhouette des Eiffelturms ist wie die Cola-Flasche für jedes Kind sofort zu erkennen und inspirierte viele Künstler ihn zu zeichnen oder zu malen. Lagerfeld inspiriert sich an der Silhouette, ist fasziniert von der Konstruktion. Der Maler Robert Delaunay malte ihn 1926 in kubistischer Technik und sein Gemälde zierte die Einladung. Karl Lagerfeld fotografierte den „Tour d’Eiffel“ das letzte Mal 2010 in einer Fotoserie.
Der Eiffelturm stand in seiner Zeit für den Aufbruch in das technische Zeitalter und die Moderne und genau das will Lagerfeld mit der Modernität der Haute Couture ausdrücken. Haute Couture ist das Mittel um sich vom Prêt-à-porter abzuheben und noch individueller seine Bekleidung zu wählen, die Individualität, für die die Pariserinnen berühmt sind und den Esprit zu adaptieren. Das, was wie Modekreation begann, erlebt eine totale Renaissance, um, wie Mademoiselle Chanel es selbst sagte, „Luxus vom Gewöhnlichen“ zu unterscheiden. Nachhaltigkeit de luxe, genäht, gestickt und gefertigt, ist eine Rückbesinnung auf Werte, die in unserer Welt immer wichtiger werden – natürlich zu einem angemessenen Preis, den die Kundinnen nur zu gern bezahlen.
Chanel Haute Couture Fall/Winter 2017; Fotos: Chanel
Lagerfelds Knöpfstiefel und fingerlosen Handschuhe erinnern an den Esprit Parisienne der Toulouse-Lautrec-Zeit 1889, als der Eiffelturm zur Weltausstellung entstand und sich der deliziöse Ruf der Pariserinnen verbreitete. Seine Pariserin tritt in dieser Saison mit Hut und dem Revival der großen klassischen Chanel-Ohrclips auf die Boulevards. Der flache Hut, den Chanel als junges Mädchen und später im Alter trug, wird modernisiert und bekommt eine weichere modernere Form und nimmt die Webkante der Tweed-Kostüme auf.
Chanel Haute Couture Fall/Winter 2017; Fotos: Chanel
Diese Saison kommen die Tweed-Jacken und -Kostüme als „Tunika Version“ oder verkürzte, kastige und zweireihig geknöpfte Version daher. Abgerundete verbreiterte Schultern und verkürzte Couture-Ärmel unterstreichen die zweidimensionale und grafische Silhouette. Sofort wird man an Karl Lagerfelds Winterkollektion 1983 für Chloé erinnert, die zu ihrer Zeit mit genau den gleichen Elementen spielte. Lagerfeld, obwohl er immer betont, dass er sich nicht wiederholt, inspiriert sich gern an seiner Chloé-Phase in den letzten Jahren. Die Schultern und Ärmel werden hier und da mit Federapplikationen geschmückt. Karl Lagerfeld erklärt hierzu, dass die Ateliers diesmal Federn wie Pelz geschoren haben und dass so weiche und bauschige Effekte als Ornamente entstehen.
Chanel Haute Couture Fall/Winter 2017; Foto: Chanel
Das Motto für diesen Winter lautet Chanel „Re-tweeted“: Gestickter Tweed auf unendlichen Grau Schattierungen aufbauend auf Mohair oder grauen, weißen oder schwarzen Wollstoffen. Herbstliche Farben wie Navy, Burgunder oder Flaschengrün runden die Palette ab. Schmale, gerade Linie wechselt sich mit A-Silhouetten oder Oversized proportionierten Mänteln und Gehrock-Jacken mit betonten Hüften ab.
Für den Abend Luxus pur in ahornroter Charmeuse, mitternachtsblauem Chiffon, schwarzem Seidentüll und Double-Face-Satin. Die Kleider voluminös inspiriert von der Phase Paul Poirets am Ende des Ersten Weltkrieges, als die Frauen die Beinfreiheit entdeckten und er und Chanel die Damen vom Korsett befreiten. Die Zeichnungen von Raoul Dufy, ein französischer Maler des Fauvismus, die sich seit jeher in der Sammlung Lagerfelds befinden, standen Pate. Stickereien funkeln, wie das allabendliche Glitzern des Eiffelturm.
Farbige, Art déco inspirierte Mosaikmotive schmücken Schößchen-Bustiers und -Oberteile; lange, schlank gehaltene Kleider. Plissee-Varianten, Tüll-Petticoats oder Feder-Traumroben passieren die Parkwege. Den Höhepunkt bildet, ganz in der alten Tradition der Haute Couture, ein majestätisches Brautkleid aus weißem Double-Face-Satin von der italienischen Seidenfirma Taroni mit aus Hunderten Federn gebildeten Kamelien am Saum und den Ärmeln.
Chanel Haute Couture Fall/Winter 2017; Foto: Chanel
Paris im Herbst unter dem Eiffelturm, die Silhouetten der stolzen Pariserinnen, die scheinbar in Haute Couture geboren zu sein scheinen. Karl Lagerfeld entführt uns in die Welt der Träume von Chanel und den Wurzeln und Werten dessen, was die Königin der Schneiderkunst bescheren kann. Modern und auch ein bisschen nostalgisch, opulent und modern. Mode, die das darstellt, wofür das Metier geboren ist: Der Traum von Weiblichkeit und einem unvergesslichen Auftritt, der Eindruck hinterlässt.
Chanel Haute Couture ist die Quintessenz von Karl Lagerfeld, des Mythos von Mademoiselle Chanel und dreißig Jahren seiner Erneuerung der Marke; verpackt als Hommage an die, die es erschaffen – einer der schönsten Spaziergänge durch Paris, die in der Modegeschichte gemacht wurden. Silhouetten der Eleganz, die sich uns sicherlich genau so einprägen werden, wie die des ewigen Eiffelturms.
thomash
12. Juli 2017 at 13:57bei den inszenierungen fürchtet man manchmal ganz leise für sich im stillen kämmerlein, dass die show ein bisschen den anlass überlagern könnte. aber damit lieg ich wieder mal total falsch, weil die sachen alle so schön sind. und weil man durch kempes schreiben noch so viel mehr darüber erfährt als auf den ersten blick, werden die sachen sogar noch schöner. ein lichtblick an einem – wie beim eiffelturm – wolkenverhangenen tag.
thomas
12. Juli 2017 at 16:29Wie hast du schön mal gesagt: „Kempe kann’s!“