Man verlernt das Radfahren nicht!
Ihr kennt das alle. Und Jil(ine) Sander beweist sich, der Modepresse und den Label-Fans mit dieser Kollektion, dass das genauso ist. Gleich der erste Mitternachtsdunkelblaue Mantel aus dem Defilee (im Header zu sehen) ist praktisch schon meiner (und ich fürchte, das könnte nicht der einzige kostspielige Mantelkauf für den kommenden Winter werden …)!
Man hat ja heute als Kreativer auch ein griffiges Thema auf der Höhe der Zeit zu liefern, zu dem die einzelnen Teile der Outfits abstrahiert wurden … und, ich hatte schon nach den ersten Modellen des Defilees so eine Ahnung, dass es da um das Konstruieren von Formen im mathematischen Sinne gehen könnte. So wie der Schliff von Edelsteinen niemals nach dem Zufallsprinzip erfolgt, hat Jil Sander ihren Schnitten, mit denen Sie seit Beginn ihres früheren Schaffens immer überzeugen konnte, mit präziser Kurvensetzung, perfekter Linienführung und aufwändigen Details, die in der Tat an Edelsteinschliffe erinnern, gleichzeitig einen sehr modernen und futuristisch-hochwertigen Look verliehen.
Kühl und sachlich wandeln die Models durch eine Szenerie aus metallischem Untergrund und wenigen Gemstone-Elementen, die man als sinnstiftendes Setdesign bezeichnen könnte. Das (diesmal sehr gelungene) Make-Up und die Frisuren der Models zeigen modernen Frauen. Unaufgeregt, zielstrebig und sinnlich, aber ohne jede Vordergründigkeit. Bloss nicht emotional unkontrolliert und vulgär. Denn, so ist eine Jil Sander Frau einfach nicht.
Aber das Label Jil Sander ist High Fashion. Man braucht also auch in unseren modernen und unsicheren Zeiten klare Zeichen des Luxus. „You buy gold when you don’t trust the future,“ so Jil Sander Backstage. „But we’re optimists. We want to believe.“
Wie man für Kundinnen, die sich partout nicht mit Gold, Glitter und BlingBling behängen wollen, dennoch unmissverständliche Enbleme des Luxus in eine moderne Kollektion einfließen lässt, das kann man nicht nur anhand der angenehm sparsam eingesetzten Goldstreifen, mal versteckter, mal quer über den Oberkörper an einem trägerlosen Kleid oder einem Rollkragenpulli laufend, nachvollziehen. Es gibt es Pelz, in einer modernen Interpretation (Argentinische Bieber), dunkel glänzend, relativ kurzhaarig und auf jedes Volumen und die übliche Üppigkeit verzichtend.
Bei den Farben habe ich mich als alter Fan der Farbe Mitternachtsdunkelblau, die es bei Jil Sander schon immer gab, über die schönen, zurückhaltenden Blau-, Rot- (Beerentöne) und Grautöne besonders gefreut. Jil Sander sieht das Farbkonzept als den Mongolischen Frühling an. Das sehr geschmackvolle Orange, ein schönes Gelb (Safran, Kamille), Sanddorn, Rotklee und die erdig-ockermoosigen Töne auftauenden Permafrostbodens – nur in Spurenelementen, könnten ihr da recht geben.
Trotz der Konstruiertheit der Formen von Jacken, Mänteln, Röcken, Kleidern und Oberteilen aus wollenen oder Cashemere-Stoffen, wirken die Proportionen leicht und die Linien folgen ganz im Sinne der Kurven Oscar Niemeyer’s der Natur körperlicher Formen moderner Frauen (das heißt leider, man sollte dünn oder sehr schlank sein, zumindest für die Kleider, Röcke und die kompakten Oberteile). Auch Doubleface-Effekte sind ein Thema. Die Mäntel und Jacken wärmen, auch wenn ich selbst auf die verkürzten Ärmel an manchen Teilen verzichten hätte können. Das steht nicht jedem, verküzt die Arme optisch und wir wollen ja alle eher längere Arme haben … Aber als Modernitäts-Statement kann ich diese Idee verstehen und gelten lassen.
Die Rocklängen reichen knapp über das Knie, sehr ladylike, ohne madamig oder bieder zu wirken. Bei den durchwegs wunderschönen Kleidern, hat sich die Kreateurin für gemäßigt kurze oder knapp über dem Knie endende Längen entschieden, was den modernen Schnitten sehr gut bekommt und ohnehin fast jeder Jil-Sander-Frau besser als ganz kurze oder etwas zu lange Rocklängen steht. Jil Sander achtet auf ihre Klientel und deren Bedürfnis danach, diese Mode im Job, bei offiziellen und privaten Anlässen frei von jeder Überlegung, „passt das auch wirklich zum Anlass“, tragen zu können. Davon darf man ruhig ein wenig fasziniert sein, dass man nicht verkleidet sein muss, um modisch auf der Höhe der Zeit bei fast jedem Anlass gut auszusehen. Purismus ohne Verzicht auf die Schönheit der natürlichen Proportionen. Futurismus auch als Anerkennung dessen, was Frauen heute schön macht.
In Summe hat die Designerin den Brückenschlag zwischen dem alten Ruhm der deutschen Modemacherin im besten Sinne und der neuen Jil Sander, die auf der handwerklichen und kreativen Grundlage vieler Erfolgskollektionen immer für positive Eindrücke und Überraschungen gut ist, für mich perfekt gemeistert. Ich bin sicher, dass mit der dritten und vierten Kollektion die Wogen der Begeisterung, auch bei den eingefleischten Raf-Simons-für-Jil-Sander-Fans langsam aufbranden könnten. Am Ende ist das alles nur in unserem Kopf, was wir uns zu so mancher Kollektion zusammen fantasieren und fabulieren …
Mir gefällt das neue Manifest der fraktalen Geometrie der Rauheit der Kreateurin Jil Sander. Und auch, wie Sie die Natur des Modebusiness beschreibt: Oft weißt du nicht was du willst, bevor du gesehen hast, was du nicht willst … oder so ähnlich. Cool und richtig ist heute modern. Was sagt ihr dazu, liebe LeserInnen? Wie gefällt die Kollektion?
Show Credits: Haare: Guido Palau, Make-Up: Pat McGrath, Set-Up und Lichtdesign: Thierry Dreyfus,