Da oben gibt es kein falsch oder richtig. Wer als Creative Director bei Louis Vuitton und den wenigen High-Fashion-Häusern angelangt ist, die ihren Chefkreativen und deren Teams alles und noch ein wenig mehr ermöglichen, kann Ausflüge nach überallhin machen. Und Nicolas Ghesquière war ganz allgemein nach Retro zumute. Und im Detail sollten es die Sechzigerjahre sein. Mit Zitaten auf alle und alles. Auch auf sich selbst. Die Zeit bei Gaultier und das Schaffen bei Balenciaga konnte man hier und da aufblitzen sehen …
Zu gerne hätte ich Delphine Arnault während der Schau beobachtet, von ihrem Gesichtsausdruck abgelesen, wie sicher sie ist, dass ihr so heiß ersehnter Star bei Louis Vuitton, mit seinem Vorwärts-in-die-Vergangenheit-Debüt, weiterhin für die Hälfte des Gewinnes (2013: 3,4 Milliarden €) des Konzernes LVMH beitragen kann. Das ließ mich beim Anblick der Petite Malle Bag, wahrhaft eine Handtaschen-Miniaturausgabe, die manche Mom in Louis Vuitton vermutlich vor ihrer Tochter im Kindergartenalter verstecken muss, für eine Zehntelsekunde zur Salzsäule erstarren … wo ist das Feuerwerk der To-Die-For-Handtaschen, Monsieur?
Hundert von Hundert Fashion-People halten das für den Traumjob, nach Marc Jacobs Erfolgsdurchmarsch an der Spitze von Louis Vuitton zu stehen – was sich Ghesquière aber nicht anmerken lässt. Mit Geheimniskrämerei und der nochmaligen Reduktion in der Verknappung, gab man der Neugier der Fashion Crowd immer neue Nahrung, ohne auch nur irgendetwas preiszugeben. Das, was Ghesquière den Glücklichen, die zum Debüt zugelassen waren, zu sagen hatte, war als persönliche Notiz auf jedem Platz ausgelegt. Nach so viel wortlosem Ankündigungs- und Impressionmanagement, und der Vorab-Gewissheit, dass aber auch wirklich alle ganz entzückt sein werden, von dem, was es da zu sehen gab, fieberte ich beim Schauen des Streams dem Moment, da es endlich losging, entgegen … Und dann ward es Licht im Halbdunkel der vollkommen undekorierten Location und Freya Beha Erichsen im schwarzen A-Linien-Ledermantel mit großem Kragen in Cognac zeigte den ersten Look … bei dessen flüchtigem Anblick ich dachte: „Oh nein, nicht schon wieder weiße Rollkragenpullover, und dann auch noch so monströs“ … wer Louis Vuitton so sehr wie ich liebt, darf das sagen!
Erwartungsgemäß folgten mit ungefähr jedem zweiten Look sehr schöne eher weite Jacken, in Leder, Vinyl, Echtpelz und Wolle … und beinahe ausschließlich sehr kurze Mäntel, allesamt in A-Linien-Form geschnitten, aus Wolle, Leder und Krokodilleder, was jung und edgy wirkte, mich aber auch schmunzeln ließ, wegen der zahlreichen Zitate. Manches erinnert sogar an Mary Quant. Und wegen der gelungenen Vinylteile dachte ich auch an selige Knautschlackzeiten aus André Courrèges Feder. Die mädchenhaften A-Silhouetten nicht neu, aber sehr gekonnt neu inszeniert, kombiniert und arrangiert, das muss man Monsieur Ghesquière lassen. Auch die Kollegen können nicht jede Saison das Rad neu und runder als kreisrund erfinden.
Mut hat er, das muss man ihm lassen. Wer den selben Frauen (Louis Vuitton Kundinnen), die noch vor einigen Saisons als moderne Amazonen in den unvergesslichen Organza-Spitzen-Kreationen von Jacobs, in den Negligées für die stets reisende Businessfrau und den Showgirl-Outfits der Goodbye-Marc-Kollektion schwelgten, einen sehr eloquenten und handwerklich beachtlichen Mix aus Zitaten auf Sixties und Seventies-Bestseller vorsetzt, mit einem Hauch des Spirits von Miu Miu, und den knallweißen Eliette-von-Karjan-trifft-Gunther-Sachs-in-St. Moritz-Gedächtnis-Rollkragenpullis, der weiß genau, was er da tut. Ich konnte es so lange gar nicht fassen, bis mich die Detailansichten der Modelle auf style.com zum Glück in die heile Welt der Louis Vuitton-Werkstätten zurück brachten. Was dort nach Ghesquière Visionen für die „neue Vuitton-Frau“ entstand, wie immer absolut luxuriös, aber auf hintergründig-futuristische Weise. Sehr zeitgenössisch inszeniert. Man betreibt den handwerklichen Aufwand, den die Kundin bezahlt und verdient. Lässt handwerklich und kreativ alle Muskeln spielen, aber protzt nicht damit. Lieber zu wenig Glanz, als auch nur ein Hauch zu viel. Auch mit den Farben verfährt Ghesquière ganz ähnlich: ein Farbkonzept ist nicht zu erkennen, ein Pantone-Maniac war der Chefkreative ohnehin nie. Viele der bewährten und bei Frauen beliebten Basis-Farben wie Camel, Karamell, Cognac, Beige, Rot, Blau, verwaschenes Schilfgrün, etwas Blaugrau, Schwarz, Weiß und Preussischblau für Vinyl, und fertig war der Lack.
Die Stars der Kollektion sind für mich die Kleider, auch als Kombination von Röckchen mit Vinyl-, Leder- oder Krokobustier – mit Zippern geschlossen. Daran konnte ich festmachen, dass der Chefdesigner, wenn er es will und für richtig hält, die Louis Vuitton Frau versteht. Wer Luxus kauft, liebt auch Allure! Und die Frage nach dem Anlass, bei dem man die Mode tragen kann und will, stellt sich immer. Dafür sitzen in diesen Konzernen ein paar der besten Marketingleute, mit deren Wissen um die Begehrlichkeiten der Betuchten und die sehnlichen Wünsche derer, die auf jedes Stück Louis Vuitton hin sparen, Marktanteile dadurch vergrößert werden, in dem alles in „Marktsegmente“ ist gleich „Produkte“ und deren Teilmärkte – umgedacht und -gerechnet wird.
Bei seinem Debüt hat man Nicolas Ghesquière sichtlich noch an der langen Leine laufen lassen. Er sollte es allen zeigen, dass neu und anders einfach viel besser und erfolgreicher werden wird. Viel höher schneller und weiter als das, was der Old-School-Superdesigner Marc Jacobs, in den letzten der sechzehn Jahren als Creative Director für Louis Vuitton und LVMH zeigte. Ein Karussell, einen Zug, Grand-Hotel-Atmosphäre, inklusive Lifte, samt Liftboys und Rolltreppen, derlei inszenierter Tand soll Teil der Vergangenheit bleiben.
Vom Gefühl her ist das damit vergleichbar, wenn nach einer glanzvollen Vorstellung mit den Stars alles Stars an der Pariser Opéra Garnier, nachdem sich der Vorhang schließt, zuerst das Licht gelöscht wird, um dann im Tages- und Gegenlicht hoch droben am Lüster- oder Schnürboden zu versuchen, die Zuschauer mit Realismus total in den Bann zu ziehen. Mir etwas zu aufgesetzt, dieser sehr harte Schnitt. Hat Delphine Arnault Marc Jacobs theatralische Inszenierungen etwa gehasst … gab es körbeweise Stammkundenbeschwerden?
Aber besser zurück zu den Kleidchen. Ganz kurz und im Trend der Zeit schwingend. Seitlich geschlitzt und mit kurzen Zippern … da kann man sich unter so manches Kleid schmale Hosen drunter getragen hin fantasieren. Dann sieht das auch an Frauen jenseits der Dreißig noch großartig aus. Und unter den dünnen Trägern (ich gebrauche hier nicht das Wort Spaghettiträger) derselben wird so manche Frau mit einem dünnen Pulli oder einem T-Shirt ihren ganz eigenen Ghesquière-Stil kreieren. Überhaupt hat es meiner Begeisterung für die Debutkollektion sehr auf die Sprünge geholfen, mir die eine oder andere der Kombinationen, anders gestylt vorzustellen.
Der kleingemusterte Westover, mit braver Rüschenbluse drunter, zur rasanten blauen Vinylhose getragen, für mich nicht der Stilweisheit letzter Schluss. Und diese Oberteile, von denen Maggie Rizer noch eines der verständlichsten trug (zum passenden A-Linien-Röckchen), muss ich mir erst noch erklären lassen. Mag ja sein, dass Luxus noch offensichtlicher wird, wenn man sich Teile leisten kann, die wie wohl kalkulierte Fehlkäufe designt sind, mir ist das zu prätentiös. Aber ich lasse mich von jedem weiblichen Horstsonian gerne eines Besseren belehren, der mir ein Foto von sich (vor Glück strahlend) im Pulli des Looks #5 schickt. Non, non, non, den verstehe ich nicht.
Mein (vorläufiges) Fazit, in Summe ist das Debut gelungen. Mit sehr guten Teilen. Insbesondere denen in Lack und Leder. Mit wertigen Materialkombinationen – Tweeds bestickt zu Vinyl, das hatte man vorher noch nicht gesehen. Ich mag die undramatische Unbeschwertheit der Kleider. Und mit anderen Tops oder Pullis gefallen die unkomplizierten „Kostüme“ aus kleinen Röcken und gezippten Jäckchen, zumeist kragenlos. Dafür kann man die Roten, Graublauen und Karamellfarbenen Pullis mit zweifarbigem Doubleface-Rollkragen, gut zu anderen Teilen tragen. Zum Beispiel zu zwei der besten Outfits der Kollektion: Diesen zweifarbigen Hosen, in Grün-Grün oder Blaugrau-Blaugrau. Daran stimmt einfach alles und offenbart sich das große Talent, das Nicolas Ghesquière nun mal hat. Auch absolut eigenständig und cool, die Idee der langen und am Ende gewundenen Gürtel.
Monsieur Ghesquière hat in den kommenden Saisons gut zu tun. Seine Mentorin Delphine Arnault wird mit Argusaugen verfolgen, wie gut sich die Looks für die neue Louis Vuitton-Frau verkaufen. Am Ende zählt für den vom Erfolg verwöhnten Konzern auch der Zauber der Zahlen. Und Marc Jacobs hatte das Gefühl für die Menschen und Märkte, die Lous Vuitton wollen und kaufen, wie die Kollegen Ford, Lagerfeld und Prada praktisch schon in den Genen.
Ich bin mehr als sehr gespannt, liebe LeserInnen und zur Feier des Tages, lieber Horst und liebe Schreiberkollegen, auf euer Urteil, die echte Expertise, denn, das ist alles zu haben, in den Maisons Louis Vuitton!