Im Herbst 1982 war – heute unvorstellbar – bei Chanel das Geld knapp. Im Jahre 1971, also kurz nach dem Tod der Gründerin Coco Chanel, hatte die letzte Modenschau noch tausende Zuschauer angelockt und der frz. Staatspräsident und Madame Pompidou das Defilee posthum für Coco beendet.
Die Assistenten von Chanel, Philippe Cazaubon und Yvonne Dudel, entwarfen in den folgenden Jahren ganz im Sinne von Chanel Haute-Couture-Kollektionen. Doch das Klientel wurde immer älter und das Haus geriet langsam in Vergessenheit, während alle anderen Modeschöpfer Prêt-à-Porter-Kollektionen entwarfen, initiiert durch YSL’s Rive-Gauche-Gedanken im Jahr 1966. Vor allem beherrschten Labels die Szene, die nur fertige Boutiquen-Mode machten wie Chloé, Rykiel, Beretta und Co..
Zeitgleich lancierte Karl Lagerfeld sein Chloé-Parfum und die Chloé-Kollektionen – mit Erfolg: alleine das Parfum machte umgerechnet über 50 Millionen Euro Umsatz im ersten Jahr. Zaghafte Versuche, eine kleine Boutiquen-Kollektion für Chanel zu starten, begannen die Gebrüder Alain und Pierre Wertheimer, die 1974 von ihrem Vater das Haus Chanel übernahmen, 1978 mit dem Designer Philippe Guibourge. Ehrlich gesagt war, bis auf das Stammhaus in der Rue Cambon von Chanels Weltflair, außer dem berühmten Parfum No. 5, nicht mehr viel übrig.
Sicherlich ist es ein bisschen so wie bei der Queen von England: Für die meisten geneigten Horstson-Leser steht Karl Lagerfeld einfach für Chanel, allein weil er schon immer da ist und man sich die Marke schwer ohne den Designer vorstellen kann. Aber da ich der älteste Horstson-Schreiber bin, kann ich mich noch an meinen ersten Besuch in der Rue Cambon erinnern – vor Karl Lagerfeld und mit dem heute weltumspannenden Imperium, das über die größte Kapitaldecke aller Modehäuser verfügt.
Die Wertheimers überlegten sich damals, wenn die Chanel-Parfums und die Kosmetik sich auch in der Zukunft am Markt behaupten sollten – und das war bitter nötig, weil sie die Haupteinnahmen des Hauses darstellten – musste etwas unternommen werden.
Man überlegte sich, was zu tun sei. Einflussreich in der Führungsebene bei Chanel war damals Guy Douvier.
Douvier hatte schon 1955 Coco Chanel beraten und, wie das Leben so spielt, 1969 die Kollektion von Karl Lagerfeld Tiziano-Rome übernommen, eine Firma, die zu den Favoriten von Elisabeth Taylor gehörte. Tiziano entwarf Prêt-à-Porter, war besonders erfolgreich in Amerika und Lagerfeld hatte 1969 Guy Douvier empfohlen, weil er durch die Arbeit für Fendi und Chloé keine Kapazität hatte. Das hatte Guy nie vergessen.
Also brachte Guy Douvier bei den Wertheimers Lagefeld ins Spiel. Diese waren zunächst ablehnend, weil der Designer damals schon eher berühmt für luxuriöses Prêt-à-Porter und „jüngere Mode“ bekannt war, als für das damals aussterbende und verstaubte Haute-Couture-Gewerbe.
Trotzdem wurde er engagiert, was zu einem Tumult führte, weil, wie es damals in der VOGUE hieß, „… kann man so etwas einem Konfektionsdesigner anvertrauen ..?“
Laut Lagerfeld besteht der Vertrag mit Chanel nur aus einer Seite und er hat sich verbürgen lassen, dass er machen kann was er will. Es war die schlauste Entscheidung, die die Wertheimers je getroffen haben – das wissen wir ja heute.
Am 05. Februar 1983, die „5“ wegen des Parfums, präsentierte Lagerfeld seine Frühjahr/Sommer-Haute-Couture-Kollektion für Chanel in der Rue Cambon. Lagerfelds Freund, Jaques de Bascher, Antonio Lopez, Anna Piaggi – alle waren da und die Kollektion wurde mit großer Spannung erwartet. Ein junges Mädchen, was überhaupt nicht dem Typ des landläufigen Models vom Anfang der 80er-Jahre entsprach, lief in der Show mit: Ines de la Fressange. Sie faszinierte sofort. Die Kollektion griff alle Erfolge von Chanel auf – das Kostüm, die Spitzenkleider und die unzähligen englischen Tweeds garniert mit Kaskaden von Modeschmuck. Lagerfeld hatte seine Prüfung bestanden.
Über die nächsten zwei Jahre und in den Prêt-à-Porter-Kollektionen wurde Karl wesentlich mutiger und persiflierte die Wurzeln des Hauses immer mehr. Chanel wurde langsam aber sicher wieder das einflussreichste Modehaus der Welt und erlebte einen ungeheuren Boom. Heute munkelt man von 10 Milliarden Umsatz im Jahr, die Firma ist immer noch in Privathand und eine der bekanntesten Marken der Welt. Die Geschichte des Markenrevivals diente Gucci als Vorbild mit Tom Ford und die Geschäftspolitik von Chanel ist das Vorbild unzähliger unternehmen. Es ist die Erfolgsgeschichte der Mode schlechthin.
Lagerfeld ist jetzt 77 und wenn er so lange wie Mademoiselle arbeitet – sie starb mit 87 Jahren über ihrer letzten Kollektion – haben wir noch viele Überraschungen zu erwarten.
Vive Karl – er chanelisierte die Welt mehr, als Chanel es je getan hat!