(Dior Cruise 2022; Foto: © Ria Mor)
Jean-Pierre Pedrazzini fotografierte die Haute Couture 1951 von Christian Dior für die Paris-Match vor der spektakulären Kulisse der Akropolis in Athen. Sechs Jahre nach dem Krieg wurden Shootings noch meist im Studio gemacht oder die in Bettlaken gehüllten Models (man hatte ständige Angst vor dem Kopieren) kurz auf dem Place de la Concorde oder einer anderen Location in Paris im Eiltempo fotografiert. Eine Produktion, die nicht nur die Prinzessinnen-Träume der Leser nach den Kleidern des schüchternen, introvertierten Genies weckte, sondern auch das Fernweh, das erste Mal ins Ausland zu fahren und eine Reise in die Welt der Antike zu wagen. Auf die Idee gekommen war Pedrazzini, weil Dior für seine aufwendigen Drapierungen der Abendkleider immer wieder Skulpturen der Antike im Louvre oder aus Kunstbüchern studierte, die die Ateliers dann aufwendig umsetzten. Das Fließen von römischen oder griechischen Gewändern – eine ewige Inspiration, die bis heute in die Dior-Codes der großen Abendroben einfließt.
Diese Geschichte gab den Anlass, dass die diesjährige Dior Cruise in Athen gezeigt wurde. Diese Art von Schauen ist eine Tradition, die besonders Maria Grazia Chiuri inspiriert, sich intensiv mit dem Handwerk der Mittelmeerländer auseinanderzusetzen. Die Designerin entdeckt dadurch immer wieder neue Regionen – ob, wie im letzten Jahr Apulien, wo auch viele ihrer Vorfahren herstammen, oder den Künstlern in den Souks von Marrakesch. Chiuri ist immer fasziniert von dem fragilen Können des Handwerks, lässt es in die französischen Traditionen einfließen und schlägt damit Brücken zwischen den nationalen Gewerken. Die Dior-Codes, wie das Bar Jacket oder auch die kunstvoll drapierten Chiffons bekommen so immer wieder ein neues Gesicht, das ganz tief verwurzelt in der Avenue Montaigne ist und sich quasi auf die Reise begibt.
Dior Cruise 2022; Foto: © George Messaritakis
Das Team um Chiuri begibt sich lange vor der Präsentation auf die Reise, um zu recherchieren, Anregungen zu fotografieren oder die abgelegenen Werkstätten zu entdecken. Dadurch formt sich um das Gerüst, das den Gesetzen und der Philosophie des Hauses folgt, wie ein Schleier die Vision des Gastgeberlandes. Dazu kommen andere Dior-Geschichten, die einfließen, wie zum Beispiel die Hosenanzüge der berühmten Kundin Marlene Dietrich, die nur einen Steinwurf entfernt in der Avenue Montaigne lebte.
Das Weiß der olympischen Funktionäre beim Einmarsch ins Stadion gab die Grundfarbe vor die bei dieser Kollektion dominierte. Beschreibt man nur kurz die Silhouette, zitiert man Maria Grazia Chiuri: Eine Allianz aus Tradition und Moderne, die im ikonischen Panathenaic-Stadion, dem Schauplatz der Show, ein Manifest für einen Körper enthüllt, der mehr denn je Bewegungsfreiheit genießt und ohne Einschränkungen auftritt.
Sportswear-Elemente dominieren oder setzen sich entgegen formeller Oberteile, wie dem Bar Jacket, Kimono-Jacken oder Oversized-Blazern (ein großes Thema in fast jeder Kollektion). Das ist sicherlich kein Wunder, denn die Sportswear (zumindest ihre Vorläufer) wurden an diesem Ort geboren, als Pierre de Coubertin 1896 die Olympischen Spiele wieder aufleben ließ. Es war damals das erste Mal, dass aus aller Welt Sportler anreisten und vor allem die Amerikaner ihre legendären Jersey-Pullover mitbrachten, die wenige Jahrzehnte später zum Sweatshirt avancierten.
Wie eine eigene Künstlerkarte fließen in die Kollektion – teils als Kontrast-Stickereien oder auch als Strukturen – viele griechische Persönlichkeiten und Kunstwerke ein. Von den Werken von Giorgio De Chirico bis hin zu mit Ringkämpfen verzierten Vasen von Alexandre Iolas. Auf Skizzen des Künstlers Pietro Ruffo stechen riesige Silhouetten in Großaufnahme hervor oder sind auf einer Auswahl an Sportswear-Teilen in das Material integriert. Die typischen Dior-Stoffe, wie zum Beispiel Hahnentritt, werden „hellenisiert“, das geflochtene Cannage-Motiv nimmt neue Abstraktionen an, ein Stern erscheint.
Die Abendroben imitieren die Hellenistischen Gewänder der Athene oder Aphrodite und der Schmuck dazu und breite Gürtel sind in der Tradition des Goldschmieds Ilias Lalaounis gefertigt. Besonders angetan hat es Maria Grazia (und mir auch) eine Sticktechnik die in der griechischen Provinz überliefert ist und in Familien-Ateliers liebevoll gepflegt wird. Bekannt vor allem von den prächtigen Bolero-Jacken, die die Wachen am griechischen Parlament tragen und die man mit der Kordeltechnik der Souaven-Stickereien vergleichen kann. Maria Grazie Chiuri besuchte die Ateliers und so entstand der Gedanke, diese historischen Stickereien für das Bar Jacket und auch die mittlerweile zum Klassiker avancierte Book-Tote, eine geräumige Tote-Bag, die nach der Idee der Büchertasche der Buchhandlung Gagliani erschaffen wurde, zu nutzen und so zu „diorisieren“.
Das Handwerk ist immer noch das, was das Luxus-Prêt-à-porter und natürlich auch die Haute Couture von jedem anderen Kleidungsstück unterscheidet. Die Formen bleiben, das Neue ist immer wieder die Meisterklasse eines sich immer wieder variierenden und zu neuen Höchstleistungen wandelndes Handwerk. Für mich ist es das, was den ewigen Stil eines Hauses immer wieder kostbar erscheinen lässt und wie zum Beispiel auch Dior sein großes Alleinstellungsmerkmal bewahrt.
Eine Reise nach Athen, die im Koffer nicht nur eine neue Kollektion, sondern auch ein komplett neu erlerntes Handwerk in die Ateliers mitbringt und so immer wieder den Wissensschatz der Ateliers bereichert.
paule
30. Juni 2021 at 11:42EIN KEMPE TEXT!
DER MEISTER SCHREIBT WIEDER UND WIR LESEN UND LAUSCHEN GESPANNT!
DANKE!
Gerd
30. Juni 2021 at 17:59Genialer Text – ich weiß wieder etwas mehr
Hannes
30. Juni 2021 at 19:54Die Location (und auch einige Kollektionsteile) erinnern doch sehr an Leni Riefenstahl.
Siegmar
30. Juni 2021 at 20:51Toller Artikel. Super schöne Kollektion
Peter Kempe
1. Juli 2021 at 00:31Vielen Dank für Eure tollen Kommentare. Ich beschreibe einfach so wie ich die Hintergründe einen Kollektion sehe und was ich für spannend erklärenswert halte und ich habe Respekt vor der Mode und liebe Handwerk. @hannes Gebe ich dir recht 80 Flaggen und Feuerwerk und olympische Inszenierungen bekommen diesen Beigeschmack immer. 1936 wurde ja das kreiert nach dessem Schema immer noch heute jede Olympia Eröffnung als Ablauf Gerüst enthält.