Das Defilee von Alessandro Micheles Kollektion für Gucci Spring-Summer 2016 wurde auf der Mailänder Modewoche heiß erwartet. Mit seiner Cruise Kollektion, die im Mai in New York gezeigt wurde, hatte er eine Steilvorlage gegeben, die zeigt, dass er bei Gucci das Ruder komplett herumgerissen hat. Gleichzeitig war die Cruise eine Kollektion, die signalisiert, dass auch die Fantasie und die Träume in die Mode zurückkehren. Neben frenetischem Jubel in der Modepresse herrscht aber auch Gespanntheit darauf, wie sich Michele weiterentwickelt und wie er seine Richtung ausbaut.
Bilder: Gucci (PR)
Dass wir uns wieder umgewöhnen müssen, auch in einer Welt, die von Marketing, Merchandising und dem Entwurf nach Planzahlen geprägt ist, fordert manchem vielleicht eine Anlaufzeit ab. Ebenso, dass Alessandro Michele mit Modernität aber Grundwerten, die die Kreativität und die Mode ausmachen, alles anders zu machen scheint und seine Schauen als Projektion zu verstehen sind, die man dann selbst kuratieren muss, ist sicherlich für viele neu. Nach all den letzten Jahren, in denen die Menschen dachten, dass sie eins zu eins die Looks aus den Schauen tragen sollten, vergisst so manch einer, dass Modenschauen eigentlich immer dazu gedacht waren, Tendenzen zu überzeichnen und dann in abgemilderter Form in den nächsten Saisons auf die Straße zu gehen. Sich so etwas in unserer Zeit, die durch Wirtschaftlichkeit und Vernunft geprägt ist, zu gestatten, da gehört nicht nur Mut dazu. Mindestens ebenso wichtig ist Intelligenz und die Gabe ein Philosoph zu sein – Eigenschaften, die Alessandro Michele in sich zu vereinen scheint.
Bilder: Gucci (PR)
Dass Alessandro Michele es schafft, Hunderte Zitate aus der Gucci-Heritage aufblitzen zu lassen, lässt erkennen, wie genau er das Haus und seine Heritage kennt. Er scheint an Guccis Wurzeln zurückgekehrt zu sein und ein ungeheuer engmaschiges Netz über das Haus gelegt zu haben. Dieses Netz fängt jeden Bestandteil der DNA der Marke ein und decodiert es, um es dann mit seinen Augen völlig neu zusammenzustellen und dabei genau die Projektion abzubilden, die er mit den Augen von 2015 sieht. Alleine Dutzende Stücke aus der Zeit von Tom Ford, wie der paspelierte GG-Trench, die mit Barockstoffen bezogenen Escarpins, die Gürtel im Stil des Studio 54, die Bell Bottom-Jeans, Westernhemd … dann Guccis sagenhafte Jetset 60ies- und 70ies-Erfolge mit Flora Prints und kurzen Jacken – alles Zitate auf die Heritage des Hauses.
Bilder: Gucci (PR)
Das überzeichnete Styling und die Kombination von für gewöhnlich nicht zusammenpassenden Kleidungsstücken soll uns nicht dazu inspirieren, im nächsten Sommer in Pierrot Anzügen oder gehäkelten Shortskombinationen herumzulaufen – im Gegentiel. Das Styling ist ein Hinweis darauf, dass Mode Ausdrucksformen bereithält, die Impulse geben sollen, seinen ganz persönlichen Stil, der ein Ausdruck des Inneren und des Geistes ist, zu kreieren. Das Existierende soll überschritten werden.
Jedes Einzelteil ist ein Kunstwerk an sich und aus dem Kontext herausgerissen. Michele selbst formuliert es so: „Détournement is the opposite of quotation“. Es ist also alles ein Spiel, bei dem dekontextualisierte Elemente neu zusammengesetzt werden: Zufällig entdeckte, ehemals existente Dinge werden ihrer Geschichte und ursprünglichen Bedeutung beraubt. Es geht darum, Bestehendes neu zu formieren, zu zerstören und Neues zu erschaffen. Détournement ist ein ästhetisches Verfahren, um verstreute Fragmente in einem neuen Kontext zusammenzuführen und mit neuen Impulsen zu versehen. Das Ergebnis ist ein eklektische Polyfonie, in der das Leben und die Welt eine neue Bedeutung erlangen.
Bilder: Gucci (PR)
Michele will den Blickwinkel verändern. Dass es sich dabei um einen zugegeben hohen Ansatz handelt, in einem Metier, dem man Oberflächlichkeit nachsagt, das vollkommen Abseits davon liegt, was zurzeit in der Mode passiert, ist klar. Aber vor dreißig Jahren spaltete Miuccia Prada mit ihren bis heute an der Grafik und Kunst orientiertem Stil genau so die Gemüter. Auch Gaultier stellte zehn Jahre zuvor mit dem Wechselspiel der Geschlechter in dieser Form die Grenzen der Mode in Frage, immer mit dem Ziel, die Mode weiter voranzubringen. Es können eben nur Überzeichnungen Richtungen weisen.
Bilder: Gucci (PR)
Sicherlich werden wir im realen Leben Hunderte Gürtel von Gucci auf normalen Jeans sehen; die karierten Sakkos zu ganz normalen Oberhemden anstatt zu Rüschenblusen. Die superschönen Shopper Taschen zu Chino und T-Shirt oder die Porzellan Blumen-Hose zum einfachen Polo Hemd kombiniert: Das ist eben die Projektionsfläche des Alltags.
Aber Alessandro Micheles Denkprozess und die Details dahinter transportieren eine Botschaft, die immer versteckt mitschwingt. Es ist ein Weg, der eine neue Verbindung von Erinnerungen und Träumen ebnet – und unsere Vergangenheit mit jener Vorstellungskraft vereint, die uns in die Zukunft führt.
Bild: Gucci (PR)
Eins hat Alessandro Michele zumindest geschafft – er ist der erste Designer, der in einem großen Konzern als erster ausbricht und eigene Maßstäbe setzt. Das Umdenken hat begonnen und wird sicherlich auch Kreise beim Zukunftsdenken anderer Marken ziehen. Dass die Meinungen geteilt sind, ist das Los dessen, der den ersten Schritt wagt – vor allem wenn der Weg der Nische und des Intellektuellen gewählt wird. Zoomt man auf die Einzelteile, wird einem jedoch bewusst, das Alessandro Michele ganz nah an dem dran ist, was man ‚Passion‘ nennt. Es geht um mehr als Bekleidung und Business – es geht um Mode und die Freiheit im Kopf, die keine Grenzen kennt …
Markus
25. Juni 2015 at 19:07ein denkwürdiger Bericht, großartig!!!
Junikäfer
25. Juni 2015 at 19:29Hundert Zitate wild und zusammenhangslos zusammengemischt. Riecht nach Mottenkugeln…
x x x
25. Juni 2015 at 22:35not sure if we want to walk the road like this….
Monsieur_Didier
25. Juni 2015 at 23:36…wie heißt es so schön: …aus jedem Dorf ein Hund 😉
aber schöne Teile dabei, durchaus…
wenn mich nicht alles täuscht hatte meine Mutter in den 70ern so einen Mantel wie den aus dem Header…
Felix
25. Juni 2015 at 23:57Einzeln okay und der Mantel ist der Burner
Sven Simmer
26. Juni 2015 at 08:58hm ja … Fasching, oder?
Siegmar
26. Juni 2015 at 12:22ganz ehrlich, ich bin ein großer Gucci-Fan aber würde keines der Teile die hier gezeigt werden anziehen. Kommt mir alles verkleidet vor, nun ich bin keine Modeexperte und verstehe auch nicht ganz die totale Begeisterung. Der Artikel ist gut geschrieben und der Denkansatz mag richtig sein. Mir als Käufer ist wichtig, das auch zu tragen und ich wüßte nicht was ich davon tatsächlich anziehen würde.
jürgen
26. Juni 2015 at 23:41mir helfen auch 1000 schöne worte nicht …
Horst
27. Juni 2015 at 09:15Ich mag es in Teilen, hoffe aber, dass sich Michele nicht verzettelt …
Wie schon geschrieben: wenn jeweils ein Teil aus dem Styling genommen wäre, hätte man einen z.T. klassischen Look.
Jan Who
28. Juni 2015 at 14:38Mein Toleranzbereich ist eindeutig überschritten 😀