Interview

Nachgefragt bei … Clément Gouverneur

(Bild: Gouverneur Audigier)

Zu neuem Leben erweckt – Die Geschichte der Brillenmarke Clément Gouverneur beginnt vor 138 Jahren im französischen Morez und führt uns 2016 zu Frédéric Ferrant, den ich im Hamburger Augenoptikgeschäft „Bellevue“ (Bleichenbrücke 1-7) zum Gespräch treffe. Hier steht alles im Zeichen von „Liebe statt Logo“, Leidenschaft für das Produkt und unabhängige Brillendesigner. Kaum durch die Tür eingetreten, empfängt mich schon Ferrant, ein charmanter Franzose mit breitem Grinsen auf dem Gesicht. Wir sind vor Ort, um uns über das französische Brillenunternehmen Gouverneur Audigier zu unterhalten. Gegründet im Jahre 1878, ist es die älteste noch aktive Brillenfabrik Frankreichs, Chapeau für so viel Durchhaltevermögen! Heute wie damals werden die filigranen Modelle mithilfe derselben Maschinen gefertigt und erleben aktuell einen neuen Aufschwung. Wir haben nicht viel Zeit, der Miteigentümer des Unternehmens und Verantwortliche für International Sales & Marketing ist eigentlich schon auf dem Sprung Richtung weltweitem Terminmarathon. Ein Gespräch über Detailverliebtheit, Marketingstrategien und fünfbeinige Schafe.

Wann haben Sie angefangen für Gouverneur Audigier zu arbeiten?
Ich bin seit vielen Jahren in der Brillen-Branche tätig und habe mitunter für Alain Mikli und Prada arbeiten dürfen. Irgendwann hatte mir ein Freund berichtet, dass Gouverneur Audigier gegebenenfalls zu Verkauf stünde. Ich machte mich damals sofort auf den Weg nach Morez, dem Standort des Traditionsunternehmens. Dort traf ich die Urenkelin des Gründers zum Gespräch, eine einmalige Chance.

Wie ging es dann weiter?
Lass mich kurz überlegen, das Ganze müsste jetzt zwei Jahre her sein. Zu dem damaligen Zeitpunkt habe ich noch meinen Geschäftspartner mit ins Boot geholt. Nach mehreren Treffen und Verhandlungen konnte das Familienunternehmen von uns übernommen werden. Es gab noch ein Dutzend weitere Interessenten, glücklicherweise konnten wir die Urenkelin jedoch von unseren Ideen und Vorstellungen überzeugen. Nach über 138 Jahren Unternehmensgeschichte waren wir schließlich die ersten Eigentümer, die nicht zur Familie gehörten.

War Ihnen der Name schon immer ein Begriff?
Ich glaube jedem, der in der Brillen-Branche arbeitet, ist schon einmal der Name Gouverneur Audigier begegnet. Es ist ein traditionsreiches Unternehmen, welches weltweit für sein klassisches Handwerk und seine ganz eigene Handschrift bekannt geworden ist. Dabei hat es sich niemals nur auf einen Teilbereich beschränkt und steht durchweg für eine hochwertige Verarbeitung: Egal ob Größe, Rahmen oder Material – wir sind hochspezialisiert und für unsere breite Spanne an Auswahlmöglichkeiten bekannt. Im Französischen würde man von einem mouton à cinq pattes sprechen… (lacht)
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Bild: Gouverneur Audigier

Ein Schaf, fünf Beine…
Genau, ein Schaf mit fünf Beinen! Um auf deine Ausgangsfrage zurückzukommen: In meiner Kindheit kannte ich das Unternehmen nicht. Ich bin erst mit dem Unternehmen in Berührung gekommen als ich angefangen hatte, in dem Bereich zu arbeiten. Zudem war damals ein Freund von mir für Gouverneur Audigier tätig – Berührungspunkte waren somit vorhanden.

Wann und vor allem warum verspürten Sie den Impuls, das Unternehmen zu kaufen?
Vor ein paar Jahren, als ich überwiegend in London und New York unterwegs war, konnte ich eine Entwicklung auf dem Markt wahrnehmen: Trends änderten sich, plötzlich waren runde Formen und Metallmodelle immer öfters auf der Straße zu sehen.
Klar, es gibt immer wieder Wellen, in denen modetechnisch auf zurückliegende Dekaden geschaut wird. Ich hatte im Gefühl, dass es der richtige Moment für eine Reaktivierung von Gouverneur Audigier sein könnte – trendübergreifend. Gerade in Anbetracht dessen, dass zu dem Zeitpunkt gefühlte 90 Prozent aller Brillenmodelle aus Plastik gefertigt wurden. Metallfassungen verwendeten zu dem Zeitpunkt die wenigsten. Es kribbelte mir in den Fingern als ich hörte, dass die Urenkelin über einen Verkauf nachdachte.

Metallfassung, ein Alleinstellungsmerkmal?
Mitunter. Als ich das erste Mal in Morez war, fühlte sich der Manufakturbesuch an wie eine Reise in die Vergangenheit. Es war einfach unglaublich, die ganzen Maschinen zu sehen, die seit 1878 ihre Dienste erweisen. Sie sind noch immer in Gebrauch, ist das nicht unglaublich? Während andere Unternehmen aus der Gegend immer häufiger ihre alten Maschinen gegen neue austauschten oder den Standort komplett verlegten, sah ich gerade hier großes Potenzial. So erzählt jede Maschine ihre eigene Geschichte, „Les mademoiselles“ war beispielsweise ein echtes Geheimnis der Manufaktur: Clément Gouverneur hatte sie nach der Gründung entwickelt. Aus Furcht vor Kopien und Ideenklau durften nur unverheiratete Frauen im 1. Stock an ihr arbeiten, warum? Weil auf diese Weise sichergestellt werden konnte, dass sie keine Details an neugierige Ehemänner weitergeben würden!

Sie haben ein klares Bild vor Augen?
Das waren meine ersten Gedanken und mir ist bis heute sehr wichtig, dass wir kein Museum sind. Wir bieten Brillenmodelle an, die zwar mithilfe der traditionellen Verfahrensweise angefertigt werden, jedoch modernstem Fachstandards entsprechen. Es ist zudem selbstverständlich, dass die Manufaktur immer wieder durch neue Maschinen ergänzt wird. Wir blicken mehr als optimistisch in die Zukunft und ruhen uns nicht nur auf dem Erbe des Unternehmens auf. Das wäre mehr als gefährlich…

Was unterscheidet Gouverneur Audigier dabei von anderen Unternehmen?
Das fängt schon bei der Fertigung an: Ein Gestell durchläuft circa 110 Schritte in der Manufaktur, bevor es überhaupt zum Verkauf angeboten wird. Das sind mehr als 18 Stunden Arbeit, die in einer einzigen Brillenfassung stecken. Wohlgemerkt werden unsere Maschinen per Menschenhand bedient. Es rattert keine Massenware über das Fließband und das fertige Gestell wird auch nicht am Ende des Bandes ausgespuckt und abgepackt. Es sind die Kolleginnen und Kollegen, die mit Leidenschaft dafür sorgen, dass jedes einzelne Brillenmodell zum Unikat wird.
Clément Gouverneur Manufaktur Frankreich
Manufaktur im französischen Morez; Bild: Gouverneur Audigier

Hört sich mehr nach Kunstwerk als Brille an…
Die einzelnen Fassungen sind überwiegend schlicht gehalten und sollen die Persönlichkeit des jeweiligen Trägers unterstreichen. Es gibt rund 60.000 Kombinationsmöglichkeiten, Größe, Form, Material und Farbe können individuell an die Wünsche des Trägers angepasst werden.

Perfektion von Menschenhand!?
Ich betone das immer wieder, wenn ich von unserer Firmenphilosophie spreche: Es sind die Menschen und nicht die Maschinen, die per Handarbeit den entscheidenden Schliff geben – natürlich können und dürfen auch mal Fehler passieren. Es ist und bleibt Handwerk…

Andere Unternehmen stoßen gerade beim Stichwort „Handwerk“ an ihre Grenzen, oder?
Das ist ein sehr spannender Gedanke. Ist es nicht interessant, dass viele Unternehmen immer häufiger versuchen eine traditionsreiche Firmengeschichte zu kommunizieren, obgleich sie keine haben? Ich sehe es so: Bestenfalls hat man eine, dann muss man nichts anhand von aufwändigen Marketingstrategien kreieren. (lacht)

Woher stammt eigentlich Ihr Interesse für Brillen?
Rückblickend gesehen war das alles eher Zufall. Zu der Zeit habe ich in Paris gelebt und war als Student eingeschrieben. Meine damalige Freundin hatte in einem der coolsten Läden der Stadt gearbeitet und als ich sie an einem Abend abholte, sah ich zum ersten Mal die Brillenmodelle von Alain Mikli. Ich stand vor den Entwürfen und dachte mir: Wow, klasse. Den Mann hinter dieser Idee muss ich treffen! Wir trafen uns und nach einer halben Stunde fragte er mich, ob ich mit ihm zusammen an seinem noch jungen Label arbeiten möchte. Ich habe mich schon damals für Mode interessiert, beim Thema Brille kannte ich mich jedoch überhaupt nicht aus. Die Zeiten waren super und ich wurde mehr als einmal an meine Grenzen gebracht: Es war gleichermaßen Herausforderung und Chance, für mich und Mikli.

Klingt spannend, erzählen Sie mir mehr über die Zeit!
Ich trat damals ganz anders auf als alle anderen. Anzug und Krawatte waren in Frankreich völlig normal, ich kam jedoch in Lederjacke zu den Terminen. Zudem hatte ich eine Frisur wie Grace Jones. Damals, als ich noch Haare hatte… Rückblickend hört sich das ganze ziemlich spaßig-leicht an, man darf aber nicht vergessen, dass es in erster Linie darum ging, die Brillengestelle zu verkaufen und das Label zu stärken.

Leidenschaft fürs Geschäft?!
Es galt die Optiker zu überzeugen, unsere Brillengestelle zu ordern. Dabei muss man sich geschickt anstellen, um seine Firmenphilosophie gekonnt weiterzutragen: Wenn dein Gegenüber smart ist, kannst du dir sicher sein, dass ungefähr 50 Prozent der Geschichte in seinem Kopf bleibt. So werden die Informationen an den Kunden weiter kommuniziert und es bleiben vielleicht 25 Prozent der ursprünglich vermittelten Philosophie. Es ist sehr wichtig, dass man den Kunden nicht im Dunkeln tappen lässt. Er will zu Recht wissen, was er kauft.

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Manufaktur im französischen Morez; Bild: Gouverneur Audigier

So lässt sich der Bogen zurück zu Gouverneur Audigier spannen!
Glücklicherweise verfügen wir über eine langjährige Unternehmensgeschichte und müssen uns hierfür nichts weiter ausdenken – wir müssen lediglich den Scheinwerfer darauf richten. Die Modelle von damals sind wunderbar schlicht bis zeitlos gestaltet, so dass sie heute wieder mehr als begehrt sind. Vor kurzem war ich in Korea und hatte den Eindruck, dass mittlerweile fast jeder auf runde, minimalistische Brillen setzt. Glücklicherweise lässt sich heute auch nicht mehr so einfach zwischen Damen- und Herrenmodellen unterscheiden.

Vielleicht könnten wir einen näheren Blick auf die Gestelle werfen?
Unsere neue Kollektion Clément Gouverneur, benannt nach dem Gründer der Manufaktur, umfasst beispielsweise verschiedene Bügelformen: So hat der Träger die Wahl zwischen den Metallfarben Champagner, Rosé, Platin oder Gelbgold. Auch beim Rand der Brille kann der Träger aussuchen, zwischen unterschiedlichen Varianten der Kunststoff- oder Lederränder variieren. Es gibt unglaublich viele Möglichkeiten der Kombination, beispielsweise auch Federstahl-Sportbügel oder Ausführungen in gefärbtem und gelochtem Leder.

Gibt es einen Bestseller?
Die runden Modelle verkaufen sich sehr, sehr gut. Sie sind, ähnlich wie die anderen Modelle, ziemlich leicht und auch bei den Herren äußert beliebt. Zudem werden wir immer wieder auf unseren flexiblen Metallbügel der einzelnen Modelle angesprochen. Er passt sich perfekt an die Ergonomie des Kopfes an und trägt sich äußerst entspannt.

Als erste Assoziation habe ich sofort an Angelica Blechschmidt und ihre Brillen denken müssen. Wie lange muss man eigentlich auf die Fertigstellung eines Modells warten?
Wenn man sich hier vor Ort für ein Modell entscheiden sollte, muss man nur auf das Einsetzen der Gläser warten. Wenn es sich um eine Anfertigung handelt, planen wir zwischen vier bis sechs Wochen ein.

Stichwort „Planung“: Wo sehen Sie sich und das Unternehmen in zehn Jahren?
Lass mich kurz überlegen… Zum einen wäre ich dann sehr gerne Teil einer der großen Luxuskonzerne, denn meiner Meinung nach hat man im Rahmen der großen Gruppen vielmehr Gestaltungsmöglichkeit. Zudem bin ich der festen Überzeugung, dass die Brillen-Branche aktuell noch im Mittelalter steckt. Wenn ich sehe, wie fortschrittlich unsere Schweizer Nachbarn in der Uhrenbranche arbeiten, halte ich unseren Bereich immer für ein Fahrrad. Wohlgemerkt ein Fahrrad im Vergleich mit einem Spaceshuttle des Uhrenmarkts. (Lacht) In zehn Jahren würde ich deshalb gerne sagen können: „Wow, wir haben mit Gouverneur Audigier viel ins Rollen bringen können“.

Es lebe der Fortschritt…
Alsbald man etwas anders denkt oder sich anders als der Rest der Masse ausdrückt, heißt es schnell: „Nein, nein. Auf diese Weise haben wir es immer gemacht, so werden wir es weiterhin tun!“ Klar, ich denke auch, dass wir weiterhin das klassisch-französische Handwerk nutzen möchten und trotzdem müssen wir nach vorne schauen. Wir müssen uns mit neuen Technologien auseinandersetzen, damit wir mit unseren Ideen am Markt bestehen können.
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Manufaktur im französischen Morez; Bild: Gouverneur Audigier

Vor welchen Herausforderungen stehen Sie 2016?
Es gilt die bestehenden Zusammenarbeiten auszubauen: Optiker, Showroom- und Pop-up-Store-Partner werden für Gespräche getroffen. Gerade hier in Hamburg bin ich mehr als zufrieden mit der Zusammenarbeit mit Karin Stehr. So habe ich mit ihrem Laden „Bellevue“ einen Platz gefunden, der sehr gut zu uns als Brillenmanufaktur passt. Generell sind wir bemüht, mit Läden zusammenzuarbeiten, die unseren Ideen entsprechen. Es ist uns sehr viel wichtiger, 50 bis 500 vielversprechende Partner weltweit zu haben, als 10.000, die nicht unsere Sprache sprechen.

Apropos „Sprache sprechen“: Gibt es irgendeinen Ratschlag, den Sie gerne zu Beginn Ihrer Karriere gehört hätten?
So oft man es auch hört: Folge deinen Träumen! Wenn man in den Staaten lebt, hört man diesen Rat öfters als z.B. in Frankreich. Da heißt es dann immer wieder „so und so könnte man das machen, aber…“. Ich kann das ehrlich gesagt nicht mehr hören, denn wenn man wirklich an etwas glaubt, sollte man dem folgen – ohne Wenn und Aber. Diesen Rat hätte ich gerne schon viel früher in meinem Leben gehört.
Wenn man scheitern sollte, scheitert man eben. Man muss sich dafür nicht schämen, sondern sollte es viel lieber wieder versuchen. Falls es dennoch nicht funktionieren sollte, findet man etwas anderes, das von Interesse sein könnte.

„Darüber lässt sich nachdenken“, könnte man an dieser Stelle beinahe provokant abschließen…
Genau das ist es. Wir denken oft viel zu viel nach, bevor wir etwas ausprobieren. (lacht)

Vielen Dank, für das nette Gespräch!
Clément Gouverneur Manufaktur Frankreich 14
Frédéric Ferrant

Anbei ein paar Impressionen von der Manufaktur und den feinen Brillengestellen. Ich bin mir noch nicht sicher, welches der vielen Modelle mir am besten gefällt. Habt ihr bereits Favoriten ausmachen können und kanntet ihr die Brillenmanufaktur schon? Ich freue mich über Euer Feedback!

  • PeterKempe
    1. August 2016 at 13:11

    Ein super Interview! Tolle und qualitativ wunderbare Produkte und Frederic ist ja wohl mehr als sympathisch und fundiert! Garantiert meine nächste Brille. Danke Julian, für die tollen Einblicke!

  • Karin Stehr
    1. August 2016 at 14:57

    Danke Julian, dieses großartige und ausführliche Interview gibt die Welt von Frédéric und seiner Kollektion Clement Gouverneur wunderbar wieder. Es ist für uns bei BELLEVUE eine wahre Freude, mit Menschen wie ihm zusammen zu arbeiten.

  • René
    1. August 2016 at 15:46

    Schönes Interview. Kannte die Firma gar nicht, ist aber auch nicht meine „Form“.

  • Horst
    3. August 2016 at 21:35

    Gutes Interview! Kann mir übrigens Peter super mit der Brille vorstellen 😀