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Fast Fashion Fools?

Das waren etwas mehr als die statistisch pro Amerikaner jedes Jahr weggeworfenen oder zumindest ausgemusterten zirka 32 Kilo Bekleidung. Nicht weniger als 354 Stück Klamotten, die eigentlich nicht gebraucht wurden und weg konnten. Die Autorin Elizabeth L. Kline nennt den Augenblick, in dem der Denkanstoß zu ihrem Buch Overdressed – The Shockingly High Cost of Cheap Fashion erfolgte ihren persönlichen AHA-Moment. Auslöser für die Inventur des Kleiderschranks war der Kauf von nicht weniger als 7 Paar Schuhen für jeweils 7 Dollar bei KMart in Manhattan. Weniger als 50 Dollar für 7 Paar Schuhe – und wozu überhaupt 7 Paar Schuhe auf einen Streich? Die herzustellen und am Ende zu entsorgen kostet mehr – wer bezahlt den Rest der Rechnung?
Was darauf an Erkenntnisgewinnen folgte hat die Autorin nach drei Jahren der Recherche und des Schreibens von ihrem Buch auch in erschütternden Zahlen kurz zusammengefasst: Alle Amerikaner kaufen heute 20.5 Milliarden Kleidungsstücke im Jahr, das sind 68 Teile und 7 Paar Schuhe pro Kopf und Nase …. das macht mehr als ein neues Teil in jeder Woche.

Im Jahr 2004 betrug die Zahl der weltweit im Auftrag von H&M produzierten Bekleidungsstücke 500 Millionen im Jahr. Heute werden für Zara eine Million Kleidungsstücke pro Tag hergestellt und im Jahr 2009 hat Forever 21 100 Millionen Teile pro Jahr geordert … alles mit stark steigender Tendenz. In den letzten 15 Jahren sind die Preise für Basics, die jeder in seinem Schrank hat, um nicht weniger als 60 Prozent gesunken (The New York Times/2008). Selbst für dieselben Basics bekannter Anbieter wie Levis oder Liz Claiborne bezahlt man heute weniger als noch 1998. Dabei ist die Bekleidungsindustrie nach der Nahrungsmittelindustrie der zweitgrößte Markt. In diesem Markt tummeln sich heute an Stelle zigtausender Modehändler immer mehr Modehandelsketten, die buchstäblich wie Pilze aus dem Boden schießen. Vor 50 Jahren produzierten in den USA noch 12.000 unabhängige Textilfabriken das, was in einem USA weiten Netzwerk an unabhängige Einzelhändler und kleine Modeketten geliefert wurde. Heute produzieren China, Bangladesch und andere Billiglohnländer die Textilen, die dann vorwiegend von Ketten abgesetzt werden. Zwischen 1995 und 1997 sind 40 neue Ketten an den Start gegangen. Man kennt die Namen nicht, aber der Markt dreht sich nun im Takt dieser Anbieter. Und zwar weltweit.

Fast Fashion wurde insbesondere für Mädchen und junge Frauen zu einer Art Lebensinhalt, dem Surrogat für guten Geschmack und Liebe zu schönem Modedesign – für den Luxus, sich ab und zu etwas zu kaufen, das man sich vielleicht noch nicht leisten kann oder worauf man schon gespart hat. Man geht schon lange nicht mehr los, wenn man Kleidung braucht oder sich was Schönes gönnen möchte, es ist eine planlose Jagd nach immer mehr neuen Stücken, die man ohnehin nicht braucht oder so ähnlich schon im Schrank hat. Wie im Fieber rennen alle los, so bald eine neue Filiale eines der begehrten Retailer eröffnet, eine neue Kollektion in die Läden kommt oder eine Modekette gar erstmalig in der Stadt erscheint. Dabei würden die Probanden (das seid ihr, Mädels) der Fast Fashion Gurus in der Textilindustrie und bei den Beratungsunternehmen bestreiten, wie deren Marionetten zu funktionieren. Wäre ich im Marketing bei Gina Tricot, Primark, H&M; Zara und Co., ich bekäme vor lauter Freude über das, was da an möglicher Fernsteuerung der Käuferinnen schon durch zig Markterhebungen abgesichert wurde, das Strahlen nicht mehr aus dem Gesicht.

Die ursprüngliche Idee der Textilbranche, die Produktzyklen so anzusetzen, dass der Kunde öfter pro Jahr in sein Geschäft kommt, hat zuerst funktioniert und nun ist sie aus dem Ruder gelaufen. Aus 4 bis 5 mal pro Jahr wurden durch permanente Auffrischung der Sortimente bei den Textilketten nunmehr 15 bis 20 Besuche im Schnitt. Frequenz schafft Gelegenheit und die wird oft genutzt, weil das Zeugs so billig ist. Die Rechnung zahlen andere. Und bei den Textilketten werden Logistik, Transporte, Marketing und Verwaltung immer wichtiger. Jedenfalls wichtiger als der modische Aspekt, in den man wenig investiert, man kopiert und kopiert – den wenig modisch versierten Kunden reicht das, fast so auszusehen, wie ….. und manche merken ohnehin gar nichts. Hatten noch nie die Urteilsgabe, vor dem Spiegel stehend einzuschätzen, wie sie in diesen Klamotten mitunter aussehen. Anders kann ich mir nicht erklären, mit welcher Überzeugung und dem faszinierend gut gepolsterten Selbstbewusstsein Heerscharen von Mädchen und jungen Frauen in Millionen Kaufrausch-Videos als Botschafterinnen des viralen Marketings der Textiler andere an diesem modischen Elend teilhaben lassen können. Seit es diese Filmchen auf YT gibt, weiß ich, dass man einen sicheren und guten Geschmack auch heute nicht vom Gott des Internets geschenkt bekommt und, dass es pfiffige Mädchen gibt, die im Video erklären, weshalb sie den Kassenzettel zum supersüßen Apricotfarbenen Blazer gleich auf den Bügel spießen … falls das Teil nach Monaten noch immer ungetragen im Schrank hängt, tauscht man dann einfach um.

Es ist nicht wirklich wichtig, Geschmack zu beweisen, aber wenn man sich im Internet mit seinen neuesten Fast Fashion Trophäen zeigt und dann in Modeblogs drüber schreibt, dann könnte Geschmack an dieser Stelle ganz nützlich sein.
Zurück zu Overdressed und der offenen Rechnung, die von Textilketten und deren Kunden produziert wird. Einkaufsstraßen weltweit werden immer ähnlicher, schon lange niedergelassene Läden können die Mieten nicht mehr bezahlen, die durch globale Ketten in astronomische Höhen getrieben wurden. Die Kunden der Einzelhändler verlaufen sich, weil die teuer gemachten Werbekampagnen der Ketten jeden neugierig machen. Früher hat H&M ja für seine Kampagnen noch teurer gecastet, da sind schon Hollywoodstars auf weißer Hohlkehle ins Rennen geschickt worden. Aber auch heute muss ich jedes Mal wieder Luft holen, wenn ich spätestens auf den zweiten Blick erkenne, dass man wieder mal mit Topmodels der ersten Garnitur und einem der besten Fotografen der Welt auf ein Ergebnis zugearbeitet hat, bei dem Gegenwehr zwecklos ist. Wer denkt beim Anblick von Daria Werbowy oder Anja Rubik schon dran, dass er selbst in dem Fummel wie eine schwangere Bergente aussehen könnte, weil 15 cm Körpergröße fehlen und der Schnitt …. naja, lassen wir das an dieser Stelle besser.

Die Verantwortlichen der Ketten nehmen sich, wovon sie denken, es schließlich zu verdienen und bekommen zu müssen, weil sie über die Finanzkraft verfügen, alles zu dominieren: Die Rohstoff-und Herstellungspreise, das düsterste Kapitel der Geschichte moderner Textilproduktion haben wir hier ja schon öfter auf dem Zettel gehabt. Die Beteuerungen der Hersteller haben alle vernommen, auch die Autorin, passiert ist wenig bis gar nichts. Mehr Kosmetik und Marketingideen als Systemänderung, in die man die Kunden ja einbeziehen müsste. Das Einsammeln von viel zu vielen getragenen Klamotten bringt gar nichts. Elizabeth Kline hat herausgefunden, dass nur zirka 20 Prozent der Kleider die wir zu den Sammelstellen bringen in Shops für solche Klamotten wieder abgesetzt werden können. Es sind schlicht und einfach zu viele dafür. Also landet der Rest als Klamottenballen per Schiff irgendwo in der Dritten Welt oder gleich im Müll. Und dieser Müll besteht heute überwiegend aus Polyester und anderen synthetischen Fasern. Ist also nicht abbaubar, verrottet nicht. Dafür zahlen dann wir alle, aber hauptsächlich die Regionen in der Welt, die ohnehin arm sind, kein oder zu wenig frisches Wasser haben und den Klimawandel nicht für eine Verschwörungstheorie oder Erfindung irgendwelcher Wetterfundis halten.
Was zu viel ist, ist zu viel. 1962 wurden in den USA Kleidungsstücke für 12 Milliarden Dollar hergestellt, heute ist das der Umsatz eines einzigen Textilers wie zum Beispiel GAP (Umsatz 14 Milliarden im Jahr 2011). Hier will aber sicher niemand das Rad der Zeit zurückdrehen, aber ein Nachdenken über das, was wir da gewissenlos in Anspruch nehmen und ohne Not immer weiter treiben, tut ganz sicher not.
Rein modisch gesehen bringen die Ketten nämlich paradoxerweise gar nichts außer übervolle Schränke. Zu vieles vom Gleichen, verschwindend wenig Individualität und modische Raffinesse. Und mir wäre neu, wenn sich die tollen Bilder der teuren Werbung, in der Models in Klamotten zu sehen sind, die sie privat überwiegend nicht tragen, positiv auf die Stil- und Geschmacksbildung bei jungen Frauen ausgewirkt hätte. Legionen von Copy Cats streunen durch die Straßen und instrumentalisieren sich freiwillig in ihren Klamottenkauf-Dokus als Multiplikatoren der Textilmultis. YT produziert Wannabes am laufenden Band und … süßer die Kassen der multinationalen Textilketten nie klingeln.
Wer übrige Energie hat, wird in Zukunft für das Wichtige und Richtige gebraucht: Die Welt durch Verhaltensänderung und guten Einfluss auf Andere vor diesem Wahnsinnskaufrausch zu retten. Das macht dann auch echt schön, von innen und außen.
Overdressed von Elizabeth L. Kline zu lesen, ist schon mal ein guter Anfang für Fast Fashion Fools und deren Gegner. Ich halte nun schon mehr als fünf Jahre durch, kaufe überhaupt keinen überflüssigen Mist mehr … aber, auch mich hat die Autorin dazu gebracht, nochmals an allen Stellschrauben drehen zu wollen. Die Industrie der Fast Follower hat sich vollkommen entzaubert. Dort wird man mich jedenfalls auch in Zukunft nur noch zu Recherchezwecken sehen, da klingelt keine Kasse mehr. Nicht mal wenn H&M mit Roland Mouret, Saint Laurent oder Tom Ford kooperieren sollten … aber das wäre ja ohnehin zu gewagt modisch für deren Klientel.

  • Helmut H.
    3. Januar 2013 at 10:38

    Am besten näht man sich seine Kleidung selbst. Dann wirft man bestimmt nicht so leichtfertig etwas weg.

  • Ludger
    3. Januar 2013 at 12:13

    Mich macht das alles sehr traurig. Haben wir wirklich nichts weiter im Leben als die Ersatzbefriedigung „Shoppen“? Shoppen um des Shoppens Willen.
    Und: wer garantiert mir, das es bei Armani und Co. nicht genausso zugeht? Unsere „Designer“ sind doch auch nur noch „Labels“: Namensgeber und Industrieverberger. Was sind die Alternativen?

  • muglerette
    3. Januar 2013 at 12:34

    deswegen trage ich nur noch couture……..or just a drop of number 5

  • rosarotchen
    3. Januar 2013 at 13:31

    Tja, was davon ist wirklich relevant? Märkte verändern sich – that’s life. Ob Ketten oder kleiner Einzelhändler, beide müssen sich dieser Konkurrenzsituation aussetzen. Die Kette zieht den Kunden durch die Preise an, die kleineren sollten durch Qualität und Service die Kunden an sich binden können – wo ich mehr bezahle, erwarte ich auch mehr. Und wenn ich mich in der Stadt umsehe, scheint es zu funktionieren. Es gibt von allem etwas.

    Dass Massenware nicht modisch sein kann, ist eine – meiner Meinung nach – engstirnige Ansicht von Unkreativen. Individualität und Stil entstehen sicher nicht dadurch, dass man teurer oder gezielter einkauft. Prominente, Stars, Sternchen und Models, beweisen täglich, dass man auch damit ein modisches Desaster abgeben kann.

    Was nützt es auch den jungen Mädchen, nur drei Teile im Schrank zu haben, die sie sich noch dazu kaum leisten konnten? Sicher nützt es ebenso wenig zu wahllos zu shoppen, aber auch günstige Massenware lässt sich stylisch tragen und modisch kombinieren.

  • Daisydora
    3. Januar 2013 at 13:58

    @Helmut H.

    Geschneidertes halte ich auch für werthaltiger,egal, ob man das selbst kann, oder jemand anderer schneidert …

    @Ludger

    Kann ich verstehen, es wirkt in gewisser Weise abstossend, so wahllos zu konsumieren … sich selbst über alles und alle zu stellen …

    Für die weit verbreiteten Zweitlinien der Designer möchte ich nicht an jeder Stelle die Hand ins Feuer legen müssen, aber je teurer die Stoffe und je aufwendiger Schnitt und Verarbeitung sind, desto sicherer kannst du von anderen, also ethischeren – Produktionsbedingungen ausgehen.

    @Muglerette

    Beides eine sehr gute Entscheidung, letzteres für den Winter mutig 😉

    @rosarotchen

    Zwischen drei Teilen und dem Fiasko von 354 Stück Klamotten zuviel kann man glaube ich sowohl ein Maß für die Stückzahl als auch einen Qualitäts- und Preismix finden, der gesünder und stilvoller als das Extrem ist.

    Märkte verändern sich, ist mir auch aufgefallen. Das ist aber kein guter Grund, an Stelle eines eigenen Geschmacks das anzunehmen, was mir Ketten wie H&M diktieren. Das sind ja nur die Imitatoren, die sich bei den Innovatoren bedienen.

    Ich habe mittlerweile so viele Videos auf Youtube gesehen und finde, wenn es nicht so traurig wäre, könnte man gut darüber lachen, wie gleich und wie schlecht sich die Mädchen darin größtenteils anziehen.

    Der Begriff stylish ist glaube ich eine Erfindung derer, die von Stil und einem eigenständigen Modegeschmack entweder keine Ahnung haben, oder nichts davon halten, weil sie in der Masse gleich angezogener untergehen wollen, oder?

    Und in dem Buch geht ja auch um die Kosten der Folgeschäden, da kann man sich nicht so einfach abschütteln … 🙂

  • Mia
    3. Januar 2013 at 14:35

    Sie kaufen Tonnen und sehen alle gleich besch… aus

  • Siegmar
    3. Januar 2013 at 15:29

    was viele unter “ stylisch “ verstehen bewirkt bei mir meist ein “ weggucken ( geschmeichelt ausgedrückt) „. Natürlich habe die meisten zuviel an Klamotten. Ich versuche seit geraumer Zeit das stark zu reduzieren und mir wenige gute Teile zuzulegen, besser zu kombinieren und darauf zu achten, mir nicht den 5 Cardigan zu kaufen, nur weil ich Cardigans toll finde.

  • Blomquist
    4. Januar 2013 at 10:42

    Ich bin ganz irritiert das Menschen minutenlang ihre
    Shoppingausbeute per Video prÄsentieren.

  • Volker
    4. Januar 2013 at 11:05

    Bei Minute 0:02 war mir klar das das Video kein gutes Ende nehmen kann. Pimki, H&M, Promod, Deichmann, Bershka

  • Daisydora
    4. Januar 2013 at 11:25

    @Mia

    So denke ich auch … schön ist, was alle gleich tragen ….

    @Siegmar

    Das mit den Cardigans ist ein gutes Beispiel, auch von guten Klamotten braucht niemand zu viele …..

    @Blomquist

    Genau …. was wird aus diesen Mädchen in fünf und zehn Jahren, wenn ihnen dann hoffentlich mal was auffällt … ich hätte doch beser Anthropologin werden sollen …

    @Volker

    Und genau von dieser Sorte gibt es dann tausende … und jeden Tag kommen frische dazu …

  • Shout-Outs: Die ersten Blog-Highlights 2013 | Fashion Insider
    4. Januar 2013 at 16:17

    […] einem Problem der Modeindustrie beschäftigt sich zudem Horstson und weist dabei auf das interessante Buch „Overdressed“ hin, in dem es um den schädlichen Massenkonsum […]

  • Dani
    10. Januar 2013 at 20:11

    Ein wunderbarer Artikel, herzlichen Dank dafür! Ich habe vor 3 Jahren damit begonnen, sehr bewusst zu kaufen und es wird bei mir wirklich von Monat zu Monat weniger und es fühlt sich gut an. Ich kann mich gar nicht erinnern, wann ich das letzte Mal einem „Kaufrausch“ verfallen bin. Deshalb werde ich es auch nicht müde, ständig auf unserem Blog zu predigen: Kauf Euch wenige aber hochwertige Teile. 🙂

    Liebe Grüße
    Dani