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50 Millionen Kaffeehaus-Stühle x Was macht Thonet heute?

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Ist es ein Stuhl von IKEA, der den Kaffeehausstuhl der Gebrüder Thonet als weltweiten Bestseller der Möbelgeschichte längst abgelöst hat? Zu seiner Hochzeit, im blühenden neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhudert wurde der Kaffeehausstuhl mit dem Design von Michael Thonet aus dem Jahr 1859 kolportierte 50 Millionen Mal verkauft.
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Aber nicht nur der Verkaufszahlen wegen ist der berühmte Kaffeehausstuhl (kleines Bild) zur Stuhl-Ikone geworden und gilt bis heute als das gelungenste IndustrieproduktKONICA MINOLTA DIGITAL CAMERA der Welt: Mit der serienmäßigen Herstellung dieses Stuhles nahm die Geschichte moderner Möbelherstellung ihren Anfang. Alles begann mit der Perfektionierung einer neuen Technik durch Michael Thonet in den 1850er Jahren, die das Biegen von massivem Holz (Bugholz) und damit eine Serienfertigung überhaupt erst möglich machte. Und auch die Transportlogistik spielte beim Siegeszug der Thonet-Stühle eine große Rolle. Die geniale Vertriebsidee: In eine Kiste von nur einem Kubikmeter konnten 36 zerlegte Stühle verpackt und kostengünstig in die ganze Welt geschickt und vor Ort montiert werden. Das erinnert schon etwas an IKEA, oder?
Thonet_Weltausstellung_London

Schon 1862 gab es Thonet-Zweigstellen in Hamburg, London und Paris, zur Jahrhundertwende beschäftigte man 10.000 Mitarbeiter und verfügte über ein weltweites Vertriebsnetz und Fertigungsstätten in mehreren Ländern. Zur Weltausstellung, die im Jahr 1873 in Wien stattfand, gehörten die Gebrüder Thonet zu einem von 5.000 teilnehmenden Unternehmen (Bild oben: Tisch zur Weltausstellung). Dazu eine Größenordnung: Zwischen 1870 und 1910 stieg die Einwohnerzahl Wiens von rund 900.000 auf über 2 Millionen an. Gute Voraussetzungen für den Verkauf von Möbeln, nach denen nicht nur das Bürgertum verrückt war. Was nach 1850 mit dem Stuhl No. 1 (großes Bild unten) – einem Schaukelstuhl aus Bugholz – begonnen hatte, setzte um 1900 durch die Möblierung Öffentlicher Einrichtungen und Kaffeehäuser seinen Siegeszug fort. Selbst das Restaurant des Eiffelturms in Paris zählte zu den Kunden der Gebrüder Thonet.
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Man fusionierte mit anderen Firmen, so gut lief das Geschäft mit den Stühlen und es entstand einer der größten Möbelkonzerne der Welt. Für mich ist es interessant und irritierend zugleich, mir vorzustellen, dass Thonet damals so etwas wie ein IKEA im gehobenen Segment gewesen sein könnte. Die Globalisierung war noch nicht erfunden, aber Arbeitskraft war, das scheint der heutigen Malaise ähnlich zu sein, billig … und so rechnete es sich, vergleichsweise schwierig herzustellende Bugholzmöbel zu Hunderttausenden und Millionen zu fertigen. Der klassische Kaffeehausstuhl No. 14 soll rund 8,50 Mark gekostet haben. Keine Ahnung, wie viel Kronen das waren. Heute bekommt man echte Thonets noch bei internationalen Auktionen und im teuren Antiquitätenhandel, es macht wirklich keinen Sinn, den Wiener Flohmarkt am Naschmarkt nach Schnäppchen abzugrasen. Jeder Hausmeister weiß, was er da auf dem Speicher bei Oma oder Uropa stehen hat.
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Leopold Hawelka in seinem Café

Unseren heutigen Erwartungen an den Sitzkomfort von Stühlen entsprechen die Kaffehausstühle glaube ich nicht mehr, obwohl man nicht nur im abgerockten Hawelka noch auf Originalen rumsitzen kann. Das muss so aussehen, so will es der Denkmalschutz und Leopold Hawelka, der weltweit geliebte Patron – vom Typ netter Wiener Grantler – der immerhin 100 Jahre alt werden durfte, schaut sich das Ganze seit 2011 vom Kaffeesiederhimmel aus an.
Heute gibt es die Firma Thonet zwei Mal. Und wenn ich mich da nicht irre, ist das größere Unternehmen das, dass nach der Trennung in ein deutsches und ein österreichisches, die im Jahr 1976 erfolgte, im deutschen Frankenberg, in der Michael Thonet Straße ansässig ist. Dort findet ihr auch das Museum Thonet. Die Wiener Thonets firmieren als Gebrüder Thonet Vienna und sind im Besitz von Poltrona Frau S.p.A.
Gebrueder_Thonet_Katalog_1904Thonet_Tafel

Was ist aus den guten alten Bugholzstühlen geworden und wann hat die Moderne Einzug ins Reich der begehrten Thonet Möbelklassiker gefunden? Mein Lieblingsstuhl, der Stahlrohr-Freischwinger S43 (für mich muss er Rot sein), den Mart Stam schon im Jahr 1931 designt hat, markiert einen der Punkte, an denen Thonet moderne Stühle produzierte, die genauso gut von heute sein könnten. Viele spätere Möbeldesigner – und der Nachwuchs jeder neuen Generation sowieso – lassen sich durch diese unvergänglichen Klassiker der Möbelmoderne inspirieren. Marcel Breuer, den alle Liebhaber von schönen Möbeln kennen, hat den Freischwinger Mart Stams dann bekanntermaßen durch dekliniert. Wie will man die Grundform eines Stahlrohr-Freischwingers, der einwandfrei funktionieren soll und schön sein muss, bei diesem Vorbild weiter verbessern oder noch schöner machen?.
Thonet_Freischwinger_S43

Der Designer Mart Stam setzte bei all seinen Möbelentwürfen auf Geradlinigkeit in der Form, auf ästhetische Sparsamkeit der Konstruktion und auf den Nutzen verbesserten Sitzkomforts. Beim S 43 kombinierte er das Stahlrohr-Gestell mit Formholzschalen für Sitz und Rücken und schaffte damit eine absolute Reduktion. Durch den bequemen Schwingeffekt des Gestells kann man auf eine Polsterung verzichten. Seine klare, zurückhaltende Form macht diesen Freischwinger zu einem exemplarischen Entwurf im Geiste der Moderne. – Das künstlerische Urheberrecht für diesen streng kubischen hinterbeinlosen Stuhl liegt heute bei Thonet.
Meinen Lieblingsstuhl gibt es ohne oder mit Armlehnen. Das Gestell in Stahlrohr verchromt oder Edelstahl, kann man auch stapelbar haben (ich nehme dann bitte gleich acht Stück davon, mit Armlehnen). Ihr seht, im Hier und heute haben wir die Qual der Wahl. Es gibt die alten Modelle in teils limitierten Neuauflagen und natürlich jede Menge neue Möbel von Thonet. Die Handschrift der Thonets und ihrer Designer bleibt Teil der Identität. Wer der Welt so schöne Möbel geboten hat, kann sich getrost selbst kopieren.

Bilder: www.thonet.de, Der Tisch für die Londoner Weltausstellung, Michael Thonet, 1851, Thonet Museum, Friedberg, Foto: E. Knaack, © Museum des Mobiliendepots, Gebrüder Thonet Wien, www.thonet-vienna.de

  • Monsieur_Didier
    2. Januar 2013 at 12:15

    Thonet sind wahre Künstler und begnadete Handwerker…
    auch wenn mir die verschnörkelten Stücke zu viel sind bewunder ich die Arbeit und die Perfektion…
    …und ein toller Artikel ist es obendrein 🙂

  • peter
    2. Januar 2013 at 12:18

    daisy!!Ich komm schon aus einem komplett Thonetisierten Haushalt.Hoffmann und co standen schon in unserem Esszimmer und ich hab natürlich auch altes Thomet zuhause!!Es ist auch noch heute eine der tollsten Firmen ,deshalb verkaufen wir sie ja auch bei uns im Laden!!1Super artikel!!!

  • Siegmar
    2. Januar 2013 at 12:49

    sehr schöner Artikel zum Jahresanfang und Mart Stam ist auch mein Favorit, immer modern und passt durch seine Klarheit zu jedem anderen Möbel.

  • thomash
    2. Januar 2013 at 14:47

    Super interessanter Artikel!
    Und noch eine Randnotiz. Billy Wilder liebte Thonet-Möbel seit seiner Kindheit im vergehenden österreichischen Kaiserreich. Vielleicht war er der erste, der anfing diese Möbel zu sammeln und er nahm seine entstehende Sammlung auch mit, als er nach Hollywood ging. Am Ende brauchte er eine eigene Lagerhalle dafür. Aber die Möbel wurden nicht nur gelagert, sondern machten sich auch nützlich in seinen Filmen. Irgendwo in der Kulisse steht immer was von Thonet rum, insbesondere im “Appartement“ wo Jack Lemmons Wohnung komplett damit eingerichtet ist.

  • Volker
    2. Januar 2013 at 15:21

    Wirklich ein schöner Artikel, ich mag eher Mart Stam als Kaffeehausstuhl

  • Monsieur_Didier
    2. Januar 2013 at 15:34

    @ thomash: …danke schön, eine super Ergänzung dieses tollen Artikels…

  • Daisydora
    2. Januar 2013 at 17:49

    @Monsieur_Didier

    Dankeschön … und ein Gutes Neues nochmals 🙂

    @Peter

    Darauf könnte man bei dir ja wetten … ich kenne Thonet & Kollegen auch schon von zuhause, in Wien entkommt man dem ja gar nicht … wegen der Überdosis bevorzuge ich heute die modernen Klassiker 🙂 … dankeschön.

    @Siegmar

    Ja, Marts Stam ist es … auch für mich … vielen Dank und auch nochmals ein Gutes Neues … 🙂

    @thomash

    Das wusste ich gar nicht. Vielen Dank für diese tolle Ergänzung. Den Nächsten Thonet schreibst dann gleich du 😉 … und dankeschön für das nette Feedback.

    @Volker

    Danke. Da liegen wir ja auf einer Linie … ich bin einfach zu viele Stunden in meinem Leben auf den Kaffeehaussühlen gesessen 🙂

    Nochmals allen Lesern ein Gutes Neues von mir 🙂

  • Horst
    2. Januar 2013 at 18:17

    Schön schön, auch ich finde den S43 chicer, hätte aber gerne den S533 an unserem Esstisch stehen! Wenn schon denn schon! 🙂

  • Daisydora
    2. Januar 2013 at 18:21

    Ja, der ist auch sehr schön, nur etwas blass, oder? 🙂

  • Horst
    2. Januar 2013 at 20:34

    @Daisy ja, passt dann so gut zu den Rauhfaser-Tapeten in Terracotta-Wischtechnik-Wänden 🙂
    Kleiner Scherz… Ja, mag aber den Farbton… 😀